Die verletzte Charitinne von Richard Dehmel

Wol dem, der Gnad' um Recht kan finden
bei der, die über ihn ruft Weh'!
Er giebt sein Leid den leichten Winden
und läßt es tragen über See.
O du, verletzte Charitinne,
bist noch auf deinem harten Sinne.
 
Er spielet förder aufs Gewisse,
hört nicht, was dem und jenem träumt,
giebt seiner Liebsten Küss' um Küsse
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und holet nach, was er versäumt.
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O du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Wie hastu mich so lassen fallen,
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Verhängnüß oder was du bist?
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Das schönste Mägdlein unter allen
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hast du betrübt durch deine List.
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O du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Ich schwöre bei den Flitz' und Pfeilen,
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darmit der kleine Gott uns zwingt,
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daß ich mich lassen übereilen
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diß, was mir nun den Tod fast bringt.
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O du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Hab' ich seit der Zeit recht geschlafen,
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hab' ich gepflogen ein'ger Lust,
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so müsse mich der Knabe strafen,
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dem du so stets zuwider tust!
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Ist dieses auch erhöret worden,
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zugleiche schön und grausam sein?
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Kupido führt den frommen Orden,
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bei ihm reißt ganz kein Zank nicht ein.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne,
 
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Ie höher Einer ist vom Stande,
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ie weniger bewegt er sich.
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Der Pövel braucht der Rach' und Schande,
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verschonen, das steht königlich.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Wenn Jupiter stracks strafen solte,
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so oft man ihn mit Worten schlägt,
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ich weiß nicht, wo er nehmen wolte
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stets was er in den Händen trägt.
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Du nur, verletzte Charitinne,
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bleibst stets auf deinem harten Sinne.
 
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Soll denn ein Wort die Kraft nun haben,
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daß es dir brächte so viel Leid?
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Nein, Schönste, deiner Tugend Gaben,
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die übersteigen allen Neid.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Die starke Kraft der heißen Reben
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umnebelt unsern schwachen Mut;
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wer denn auf Reden Acht will geben,
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der tut nicht, wie ein Weiser tut.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Die Tränen, die du hast vergossen,
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die sind gefolgt der Flucht der Zeit.
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Schau, so viel Zeit ist hin verflossen,
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ich weine noch um diß dein Leid.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Hätt' ich ein Salamanderleben,
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so wär' es wol um mich bewandt.
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Dein Zornfeur hat mich ganz umgeben,
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es steckt mir Leib und Seel' in Brand.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bist noch auf deinem harten Sinne.
 
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Das böse Meer, das heute brauset,
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wird morgen still' und milder sein.
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Wenn Boreas hat ausgesauset,
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so tritt ein linder Zephyr ein.
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Du nur, verletzte Charitinne,
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bleibst stets auf deinem harten Sinne.
 
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Auf dunkle Nacht folgt heller Morgen,
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auf Winter der gesunde Mai.
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Ist Titan itzo schon verborgen,
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bald zeigt er sein Gold wieder frei.
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Und du, verletzte Charitinne,
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bleibst stets auf deinem harten Sinne.
 
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Komm, Schönste, lasse dich versöhnen
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und schaffe meiner Seelen Rast!
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Ich bitte durch die Zier der Schönen,
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da du das Lob vor Allen hast.
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Ach, nun, verletzte Charitinne,
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gebeut doch diesem harten Sinne!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.4 KB)

Details zum Gedicht „Die verletzte Charitinne“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
513
Entstehungsjahr
1863 - 1920
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die verletzte Charitinne“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1879 bis 1920 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 513 Wörter. Es baut sich aus 15 Strophen auf und besteht aus 90 Versen. Die Gedichte „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Die verletzte Charitinne“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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