Und sie stehn vor einer Domfassade von Richard Dehmel

1	Und sie stehn vor einer Domfassade.
2	Unvollendet hockt der eine der hohen Türme
3	im Kranz der gothischen Höllengewürme,
4	als bitte er den andern um Gnade.
5	Aber vor vermessenem Himmelsverlangen
6	scheint die irdische Tragkraft ihnen ausgegangen;
7	unten gähnen wie Grüfte die kunstgerechten Pforten.
8	Demütig Gebeugte nahen von allen Seiten.
9	Und das Weib winkt dem Mann, auch hineinzuschreiten.
10	Und die Orgel erbraust zu ihren Worten:
11	Komm, laß uns einmal wieder voller Kindheit sein.
12	Horch, wie die alten Lieder Alle benedein.
13	Da spürt kein Herz mehr Sünde;
14	die Mutter mit dem Kinde
15	schließt ja auch Uns die Gründe
16	der Welt und Menschheit auf und ein.
17	Doch die Orgel verstummt. Dumpf tönen Gesänge
18	einer verborgenen Priesterschaar.
19	Und über dem weihrauchumdampften Altar
20	sehn sie bleich einen Gekreuzigten hängen:
21	mit gräßlich wahr gemalten Wunden
22	und schrecklich schön geformtem Munde
23	Da neigt fromm der Mann dem Weibe sich dar:
24	Vor deinem künftigen Kinde
25	könnt ich dir beichten, den Heiligen gleich:
26	ich suchte einst ein bißchen Sünde
27	und fand das ganze Himmelreich.
28	Hier aber dünkt es ein Wortspiel mich,
29	wie dieses Schauspiel, stimmungshohl, durchtrieben.
30	Komm! Draußen steht's von Grund auf in Stein geschrieben,
31	das schwere Wort: Vollende Dich!
32	Und die Orgel braust wieder. Er sucht einen Pfad
33	ins Freie, scheu umkauert von Betern.
34	Ein feister Küster im Ornat
35	blickt ihnen nach wie frechen Spöttern.
36	Zwei Menschen fliehn vor fremden Göttern.

Details zum Gedicht „Und sie stehn vor einer Domfassade“

Gedicht-Analyse

Richard Dehmel ist der Autor des Gedichtes „Und sie stehn vor einer Domfassade“. Im Jahr 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Im Zeitraum zwischen 1879 und 1920 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 222 Worte. Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Bann“, „Bastard“ und „Bitte“. Zum Autor des Gedichtes „Und sie stehn vor einer Domfassade“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

Weitere Gedichte des Autors Richard Dehmel (Infos zum Autor)

• An mein Volk
• Antwort
• Auf der Reise
• Aufblick
• Ballade vom Volk
• Bann
• Bastard
• Bitte
• Büßende Liebe
• Chinesisches Trinklied

Zum Autor Richard Dehmel sind auf abi-pur.de 522 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.