Venus Sapiens von Richard Dehmel

Nun, du Eine, tritt heran,
höre meine wahrsten Laute;
höre zu wie Jonathan,
als sich David ihm vertraute.
Schwer vom Hohn und Übermute
Goliaths herabgemächtigt,
hat bis heut in meinem Blute
noch der greise Saul genächtigt.
 
Zwielicht. Sterbend hängt die scharfe
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Zunge aus dem Lästermaul.
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Sieh, nun weint dein König Saul,
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denn dein David singt zur Harfe.
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Alle Kleider sind zerrissen,
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die den alten König schmückten;
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brütend hört er den Entzückten
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nahen aus den Finsternissen.
 
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Goliath tot! den König schauert;
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seine Schwermut ahnt das Ende.
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Und dein Sänger steht und trauert:
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blutbefleckt sind seine Hände.
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Aber weiter muß er schreiten,
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seine Töne sind ein Bann,
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selig greift er in die Saiten:
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Komm, o komm, mein Jonathan!
 
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Traure nicht um den gebeugten
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Vater, dem vor morgen graut;
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denn die Trübsal ist die Braut
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aller nicht vom Geist Gezeugten.
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Jonathan, du sahst ihn sitzen,
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den Berater deiner Reife,
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nackt und schamlos, und das steife
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Haupt umstarrt von Lanzenspitzen.
 
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Und du sahst vor seinem Zelt
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sterben den Philisterfürsten;
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aber Leben braucht die Welt,
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laß uns nach dem Geiste dürsten!
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Denn es weht von allen Hügeln
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immer neu sein ewiger Segen;
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lerne nur dein Herz beflügeln,
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und er wird auch Dich bewegen!
 
41 
Jonathan, zu jeder Frist
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sei nun meiner Liebe sicher;
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und sie ist viel sonderlicher,
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als mir Frauenliebe ist.
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Glutwind droht den jungen Saaten;
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nimm den Bogen in die Hände,
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daß dein Pfeil mir Warnung sende,
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sinnt der Vater Wahnsinnstaten.
 
49 
Jonathan, hier steh ich nackt;
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du mein Bruder, Freund, Berater,
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hilf mir, wenn die Glut mich packt!
52 
Jona! Weib! noch giert der Vater!
53 
Jona, Schwester! unsre Kinder
54 
Gattin! weinen meine Saiten
55 
»David, komm! du Überwinder
56 
unsrer Unwillkürlichkeiten« ...
 
57 
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
 
58 
Wird sie so mir Antwort blicken?
59 
Ja! kein Argwohn soll mir mehr
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meine Glaubenslust ersticken
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ihre Seele atmet zu mir her.
 
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Und in alle meine Finsternisse
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dringt auf einmal lichter Sinn:
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schimmernd wie durch Wolkenrisse
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schwebt ein Wesen ob mir hin:
 
66 
das beginnt mich anzulachen,
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jungvertraulich, altvertraut
68 
O, komm her aus deinem Himmelsnachen,
69 
ja, seit ewig warst du meine Braut,
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Venus Sapiens“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
69
Anzahl Wörter
334
Entstehungsjahr
1863 - 1920
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Venus Sapiens“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Der Autor Richard Dehmel wurde 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. In der Zeit von 1879 bis 1920 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 334 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 69 Versen. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“. Zum Autor des Gedichtes „Venus Sapiens“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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