Der befreite Prometheus von Richard Dehmel

Vom Kaukasus herniederschritt Prometheus:
er war erlöst, Zeus gab ihn frei.
Der Riese durfte wieder sich erheben
vom Felsen, dran er büßend hing:
er durfte nun hinab nach seiner Erde,
hin zu den Menschen, die so sehr er liebte,
daß er der eignen Seligkeit vergessen
und für sie stahl das Feuer vom Olymp.
 
Nicht dauerte den Götterkönig
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des Himmelssohnes, des abtrünnigen.
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Warum auch wagte den Gedanken er,
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den Menschen Göttergut hinabzutragen?
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Er hatte seinen Lohn dahin,
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den Dulderlohn,
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nach der Olympier unerbittlichem Gesetz!
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Verraucht nur endlich war der Zorn des Zeus;
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und Laune war's und Gnade, daß sein Blitz
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vom Leib des Märtyrers die Fesseln sprengte,
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die donnerkeilgeschmiedeten ...
 
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O lange Qual! oh Leib - zerfleischt, entstellt!
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Noch deckten Schwären die zerschundnen Knöchel;
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kaum konnten die verkrümmten Finger schützen
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die roten Male all, die frisch noch glänzten,
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auf all den Wunden, die ihm Tag um Tag
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der Geier gierige Schnabelschläge rissen.
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O Tage voller Wut und Ohnmacht!
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oh Tag der Bitternis, da ihm die Kraft,
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die einst mit Bergen wie mit Würfeln spielte,
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zum Ersten Male
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versagte vor der Uebermacht des Neides,
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des weltbeschattenden, der alten Götter!
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oh Tag, als in Verzweiflung starb sein Mut!
 
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Doch nun war Alles überwunden.
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Versprüht die Kampfglut in den tiefen Augen;
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erloschner Groll, verlohte Leidenschaft
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die einz'ge Saat der tiefzerfurchten Züge,
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so tief, als sollten tausend Thränen drin
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zu den verdorrten Wurzeln seiner Seele,
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zum Grabe eines Lebens niederfolgen.
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Um seine schmerzvernarbte Stirne zauste
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der kalte Wind des Haars ergraute Büschel.
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So schritt er abwärts, der gebeugte Riese ...
 
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Nur ruhen wollt' er, ausruhn bei den Menschen,
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sie um sich sammeln wie ein alter Vater seine Kinder,
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ihr Glück genießen, das sie ihm ja dankten,
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den Frieden sehen, der emporgeblüht,
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seit er den Himmelsfunken ihnen schenkte,
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seit er den unstät Irrenden
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gebaut den ersten warmen, festen Herd,
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sich freuen der Geschöpfe jetzt,
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die tierischwild in Hader, Haß und Habgier
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sich um das nackte Leben schlugen einst,
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die seine That ja erst zu Menschen schuf!
 
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Und nieder kam er in die mildern Lüfte,
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ins ebne Land; da sah er schöne Fluren,
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bebaute Aecker, wohlgehegte Gärten,
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und ringsum lugten Dörfer aus dem Grün,
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und weither prangten Zinnen sichrer Städte.
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Da lachte seine Seele: Siehe, Zeus!
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war Das nicht wert der hundertjähr'gen Pein?
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ja, meine Menschen will ich wiedersehn!
 
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Und in die Dörfer ging er, in die Städte
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und ging und ging - und suchte hin und her
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und fand
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weh, wehe, wehe - Alles wie zuvor.
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Haß, Hader, Habgier schlugen sich im Streit
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mit andrer Habgier, anderm Hader, anderm Haß,
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nur Eines fand er auf der Erde neu,
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den Neid: den eklen winzigen Neid,
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den Neid der Menschen um Besitz,
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und war doch da Genug, genug für Alle.
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In Hütten sah er, in die Burgen sah er;
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doch es war Alles Eines,
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war Alles wie zuvor - und schlimmer noch ...
 
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Zuletzt in eines Priesters reiches Haus
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trat matt er ein. Dort wohnte ja der Friede,
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den er vergebens bei den Andern suchte;
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dort wo des Dankes stilles Sinnbild ihm
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in heil'ger Lampe glomm die ew'ge Flamme,
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dort auf geweihter Schwelle wollt' er rasten
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noch Einmal unter Menschen - und sich dann
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auf immer in die Einsamkeit verbergen.
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Zum Hausherrn sprach er, der im Hofe stand:
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Ich bin Prometheus, laß mich ein bei dir!
 
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Der wandte sich erschrocken, blickte scheu
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dem großen Mann ins düstre Angesicht,
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und schlich geduckt davon, und schloß sich ein,
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und durch die Thür quoll eine fette Stimme:
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Ich habe selber nichts; geh weiter, Narr!
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Prometheus, der ist tot - und kommt nicht wieder;
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ja, damals waren bess're Zeiten noch
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als heute -!
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Dann schlurften Schritte tiefer ins Gemach.
 
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Noch stand der Wandrer. Da: ein Wanken faßte
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den Qualgewohnten, auf die heil'ge Schwelle
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schlug er dahin, und stöhnend schluchzte er
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zum Himmel auf: Oh Zeus! sehr furchtbar strafst du!
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so nicht, so brauchtest du dich nicht zu rächen!
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Das war das Letzte! ich will sterben gehn!
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Und gellend jählings brach
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ein Lachen hoch aus der zerrißnen Brust,
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und rasend sprang er auf,
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und brüllend rannte er dahin, dahin der Riese:
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Fort von den Menschen! fort! zum Meer! ins Meer!
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im Meer, da find' ich Ruhe! endlich Ruhe!
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Da stand er oben auf der steilen Klippe ...
 
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Und wieder sah im ebnen Lande unten
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die schönen Fluren er, die blühenden Triften,
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bebaute Aecker, wohlgehegte Gärten,
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und ringsum lugten Dörfer aus dem Grün,
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und weither prangten Zinnen sichrer Städte.
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Da gärte auf in ihm vergeßne Kraft,
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da kochte auf in ihm verlernter Grimm,
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vom Felsen ächzend riß er Stück um Stück,
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und Stück um Stück in toller Blindheit schmiß er
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brüllend ins Meer,
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gell durch den Sturm
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mit weinendem Gelächter flog sein Jammer:
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O könnt' ich gleich die ganze Brut zermalmen,
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die so mein Gut, mein göttliches, veraast!
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Ha, meine Menschen, hahahah - -!
 
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Da horch, was klang da? schwoll da nicht ein Schrei,
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ein Menschenschrei voll Not und Angst empor?
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Hinab er stierte: rollend ging die See,
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von seinen Würfen zischend aufgerührt,
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und auf dem Gischte trieb zerschellt ein Kahn,
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und in den Wogen rang ein Mensch ums Leben.
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Doch jetzt: schon schäumte von der stiller'n Flut
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ein andrer Nachen her, draus warf sich
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ein zweiter Fischer in die Brandung.
 
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Und oben auf der Klippe stand Prometheus
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und stierte, - stierte und erkannte sie:
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auf seiner Wandrung hatt' er sie gesehen,
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die ersten Menschen waren's die er traf:
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Todfeinde waren's, - und jetzt kämpfte dort
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der Feind dem Feind vereint um Feindes Leben!
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Und endlich siegten sie den schweren Sieg
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und schleppten keuchend sich zum kahlen Strand
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und schauten in die Augen sich
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und sanken in die Arme sich,
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sprachlosen Glückes, stummer Liebe voll.
 
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Und oben auf der Klippe stand Prometheus
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und sah ihr Hab und Gut im Meer versinken
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und - sah sie lachen, hörte jauchzen sie.
 
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Da glühte auf in ihm vergeßner Glaube,
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da lohte auf in ihm verlernter Mut,
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und in die Kniee nieder brach Prometheus
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und auf zum Himmel stammelte Prometheus:
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Oh Zeus! ich danke dir - du armer Gott
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ich bin so reich! ich fühle Menschenliebe!
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o laß mich leben - ewig leben:
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ich will - noch Einmal gehn - zu meinen Kindern!

Details zum Gedicht „Der befreite Prometheus“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
152
Anzahl Wörter
1021
Entstehungsjahr
1863 - 1920
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der befreite Prometheus“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Der Autor Richard Dehmel wurde 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1879 bis 1920 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 152 Versen mit insgesamt 15 Strophen und umfasst dabei 1021 Worte. Die Gedichte „Bastard“, „Bitte“ und „Büßende Liebe“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Der befreite Prometheus“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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