Ein apokalyptisches Fragment von Karoline von Günderrode
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Ich stand auf einem hohen Fels im Mittelmeer, und vor mir war der Ost, und hinter mir der West, und der Wind ruhte auf der See. |
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Da sank die Sonne, und kaum war sie verhüllt im Niedergang, so stieg im Aufgang das Morgenroth wieder empor, und Morgen, Mittag, Abend und Nacht, jagten sich, in schwindelnder Eile, um den Bogen des Himmels. |
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Erstaunt sah ich sie sich drehen in wilden Kreisen; mein Puls floh nicht schneller, meine Gedanken bewegten sich nicht rascher, und die Zeit in mir gieng den gewohnten Gang, indes sie ausser mir, sich nach neuem Gesetz bewegte. |
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Ich wollte mich hinstürzen in das Morgenroth, oder mich tauchen in die Schatten der Nacht, um mit in ihre Eile gezogen zu werden, und nicht so langsam zu leben; da ich sie aber immer betrachtete, ward ich sehr müde und entschlief. |
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Da sah ich ein weites Meer vor mir, das von keinem Ufer umgeben war, weder im Ost noch Süd noch West, noch Nord: kein Windstoß bewegte die Wellen, aber die unermeßliche See bewegte sich doch in ihren Tiefen, wie von innern Gährungen bewegt. |
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Und mancherlei Gestalten stiegen herauf, aus dem Schoos des tiefen Meeres, und Nebel stiegen empor und wurden Wolken, und die Wolken senkten sich, und berührten in zuckenden Blitzen die gebährenden Wogen. |
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Und immer mannichfaltigere Gestalten entstiegen der Tiefe, aber mich ergriffen Schwindel und eine sonderbare Bangigkeit, meine Gedanken wurden hie hin und dort hin getrieben, wie eine Fackel vom Sturmwind, bis meine Erinnerung erlosch. |
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Da ich aber wieder erwachte, und von mir zu wissen anfieng, wußte ich nicht, wie lange ich geschlafen hatte, ob es Jahrhunderte oder Minuten waren; denn ob ich gleich dumpfe und verworrene Träume gehabt hatte, so war mir doch nichts begegnet, was mich an die Zeit erinnert hätte. |
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Aber es war ein dunkles Gefühl in mir, als habe ich geruht im Schoose dieses Meeres und sey ihm entstiegen, wie die andern Gestalten. Und ich schien mir ein Tropfen Thau, und bewegte mich lustig hin und wieder in der Luft, und freute mich, daß die Sonne sich in mir spiegle, und die Sterne mich beschauten. |
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Ich ließ mich von den Lüften in raschen Zügen dahin tragen, ich gesellte mich zum Abendroth, und zu des Regenbogens siebenfarbigen Tropfen, ich reihte mich mit meinen Gespielen um den Mond wenn er sich bergen wollte, und begleitete seine Bahn. |
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Die Vergangenheit war mir dahin! ich gehörte nur der Gegenwart. Aber eine Sehnsucht war in mir, die ihren Gegenstand nicht kannte, ich suchte immer, aber jedes Gefundene war nicht das Gesuchte, und sehnend trieb ich mich umher im Unendlichen. |
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Einst ward ich gewahr, daß alle die Wesen, die aus dem Meere gestiegen waren, wieder zu ihm zurückkehrten, und sich in wechselnden Formen wieder erzeugten. Mich befremdete diese Erscheinung; denn ich hatte von keinem Ende gewußt. Da dachte ich, meine Sehnsucht sey auch, zurück zu kehren, zu der Quelle des Lebens. |
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Und da ich dies dachte, und fast lebendiger fühlte, als all mein Bewußtseyn, ward plötzlich mein Gemüth wie mit betäubenden Nebeln umgeben. Aber sie schwanden bald, ich schien mir nicht mehr ich, und doch mehr als sonst ich, meine Gränzen konnte ich nicht mehr finden, mein Bewußtseyn hatte sie überschritten, es war größer, anders, und doch fühlte ich mich in ihm. |
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Erlöset war ich von den engen Schranken meines Wesens, und kein einzler Tropfen mehr, ich war allem wiedergegeben, und alles gehörte mir an, ich dachte, ich fühlte, wogte im Meer, glänzte in der Sonne, kreiste mit den Sternen; ich fühlte mich in allem, und genos alles in mir. |
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Drum, wer Ohren hat zu hören, der höre! Es ist nicht zwei, nicht drei, nicht tausende, es ist Eins und alles; es ist nicht Körper und Geist geschieden, daß das eine der Zeit, das andere der Ewigkeit angehöre, es ist Eins, gehört sich selbst, und ist Zeit und Ewigkeit zugleich, und sichtbar, und unsichtbar, bleibend im Wandel, ein unendliches Leben. |
Details zum Gedicht „Ein apokalyptisches Fragment“
Karoline von Günderrode
15
15
650
1780 - 1806
Romantik
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Ein apokalyptisches Fragment“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Karoline von Günderrode. Die Autorin Karoline von Günderrode wurde 1780 in Karlsruhe geboren. Zwischen den Jahren 1796 und 1806 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Bei der Schriftstellerin Günderrode handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche.
Die Romantik ist eine Epoche der Kunstgeschichte, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Literatur, Musik, Kunst und Philosophie prägte. Auf die Literatur beschränkt betrachtet reichen die Auswirkungen der Epoche lediglich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Die Frühromantik lässt sich zeitlich bis in das Jahr 1804 einordnen. Die Hochromantik bis 1815 und die Spätromantik bis in das Jahr 1848. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Romantikern zuwider. Sie stellten sich in ihren Schriften gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. Die zentralen Motive der Literatur der Romantik sind das Schaurige, Leidenschaftliche, Unterbewusste, Fantastische, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, welche die Grenzen des Verstandes sprengen und erweitern sollen und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken sowie die Industrialisierung richten. Die romantischen Dichter sehnen sich nach der Einheit von Natur und Geist. Ein Hinwenden zum Mittelalter ist erkennbar. So werden Kunst und Architektur dieser vergangenen Zeit geschätzt. Die Missstände des Mittelalters bleiben jedoch unerwähnt. Die äußere Form von romantischer Dichtung ist dabei völlig offen. Kein starres Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.
Das 650 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 15 Versen mit insgesamt 15 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Karoline von Günderrode sind „Wunsch“, „Zwei Augen wie Sterne“ und „Des Knaben Abendgruss“. Zur Autorin des Gedichtes „Ein apokalyptisches Fragment“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.
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