Der verreisten Hausfrau von Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel
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Komm zurück! Seit du von hinnen, |
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Ist es tot in unserm Hause, |
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Tot wie dort im Märchenschlosse, |
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Da die junge Königstochter |
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War in Zauberschlaf gesunken. |
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Gleich mit ihr entschliefen alle |
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Herrn und Knechte, Fraun und Zofen, |
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Auch die Pferd' im Stall entschliefen |
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Samt dem Hündlein vor der Stalltür. |
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Auf dem Herde selbst das Feuer, |
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Plötzlich kroch's in sich zusammen, |
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Während auch der Brunn im Hofe |
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Sich auf einen Zug verschluckte. |
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An der Wand sogar die Fliege, |
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Die sich just das Köpfchen putzte, |
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Plötzlich schlief ihr ein das Beinchen. |
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Auf dem Dach die weiße Taube |
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Setzte sich zurecht zum Schlafen, |
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Und das Schwälbchen unterm Giebel |
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Schlummert ein im schönsten Lied. |
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Und so lagen, saßen, stunden, |
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Und so schliefen, schnarchten, träumten |
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Rings um ihre Königstochter |
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Herrn und Knechte, Fraun und Zofen, |
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Tier' und Vögel, Feu'r und Wasser |
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Viele hundert Jahre lang. |
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Komm zurück! und gleich ergeht es, |
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Wie's im Schlosse dort ergangen, |
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Als verwegen, unaufhaltsam |
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Durch die Dornen all, die ringsum |
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Turm und Mauer überwachsen, |
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Als verwegen eingedrungen, |
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Auf den Mund die Königstochter |
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Hat geküßt der Königssohn. |
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Komm zurück! und bei dem ersten |
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Kuß auf deine süßen Lippen, |
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Bei dem ersten, manch Jahrhundert |
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Schon entbehrten, süßen Kusse, |
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Wird die Magd aus trägem Schlummer |
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Neu erwacht zum Herde treten; |
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Wird das Feuer auf dem Herde |
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Wieder braten, kochen, sieden; |
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Wird der Brunnen wieder rauschen, |
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Topf und Kessel uns zu füllen; |
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Wird im wieder warmen Zimmer |
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Auch die Fliege wieder summen, |
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Gern gehegt den Winter über |
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Und verhaßt allein des Sommers. |
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Kammerherrn und Kammerfrauen |
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Samt den Pferden auch im Stalle, |
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Diese mögen unsertwegen |
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Noch ein paar Jahrhunderte schlafen: |
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Dafür heimlich überm Dache |
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Kreiset neu die Friedenstaube, |
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Und das Schwälblein unterm Giebel |
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Singt gar aus sein halbes Lied. |
Details zum Gedicht „Der verreisten Hausfrau“
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1806 - 1869
Klassik,
Romantik,
Biedermeier
Gedicht-Analyse
Das vorgelegte Gedicht „Der verreisten Hausfrau“ wurde von Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel verfasst, der von 1806 bis 1869 lebte. Wackernagel war ein deutscher Schriftsteller, Philologe und Historiker, der hauptsächlich für seine Werke in der Altgermanistik bekannt ist. Diese datieren in die Phase der Romantik bis hin zur Biedermeierzeit.
Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie der sehnsüchtige Ruf eines Ehemannes oder Familienmitglieds an eine Hausfrau, die das Zuhause verlassen hat. Die sprachliche Gestaltung des Gedichts weist auf eine tiefe Sehnsucht und eine fast verzweifelte Bitte um Rückkehr hin, die mit einer bildhaften Darstellung des Stillstands und des Schlafes innerhalb des Hauses untermauert wird.
Inhaltlich handelt das Gedicht von einer verreisten Hausfrau, deren Abwesenheit dazu führt, dass das Haus als tot empfunden wird. Die Zustände innerhalb des Hauses werden mit einem Märchenschloss verglichen, in dem alle Bewohner in einen Zauberschlaf gefallen sind. Sobald die Hausfrau zurückkehrt, so die Hoffnung des lyrischen Ichs, wird alles wieder zum Leben erweckt. Mit dem Kuss, den die Königstochter im Märchen durch den Prinzen erhält, wird hier symbolisch die Rückkehr der Hausfrau und ihr „Erwecken“ des Hauses dargestellt.
Die Form und die Sprache des Gedichts sind klar und rhythmisch. Die repetitiven Aufrufe „Komm zurück!“ am Anfang jeder Strophe schaffen ein dringliches und sich wiederholendes Bild der Sehnsucht. Die Verwendung von Märchenelementen dient dazu, die Magie und Wichtigkeit der Hausfrau für das Haus und seine Bewohner zu verdeutlichen. Es sind aber auch ironische Anklänge erkennbar, wie etwa die Stelle mit der Fliege, die den Winter über gehegt und nur im Sommer verhasst ist. Hier könnte eine Kritik an der widersprüchlichen Behandlung und Wertschätzung der Hausfrau mitschwingen.
Insgesamt wirkt das Gedicht wie ein nostalgischer und zugleich kritischer Kommentar zur Rolle der Frau in der Hausarbeit und zum Dasein im häuslichen Bereich allgemein. Dabei betont es die Abhängigkeit und Notwendigkeit der Hausfrau für das Wohl und die Lebendigkeit des Haushalts.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der verreisten Hausfrau“ des Autors Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel. Geboren wurde Wackernagel im Jahr 1806 in Berlin. Im Zeitraum zwischen 1822 und 1869 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zu. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das 283 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Karl Heinrich Wilhelm Wackernagel ist auch der Autor für Gedichte wie „Schlafe, schlaf, mein Kindelein“ und „Lieg hier am Rosenhagen, am blühenden Baum“. Zum Autor des Gedichtes „Der verreisten Hausfrau“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.
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