November von Victor Hugo

Sobald der Herbst die Tage verkürzt, die er verschlinget,
Den Abend und den Morgen um ihre Gluthen bringet,
Wenn des Novembers Nebel am blauen Himmel weilt,
Wenn es im Walde braust, wie Schnee die Blätter fallen,
Dann ziehst du Muse dich zurück in mir, vor Allen,
Wie ein erstarrtes Kind, das zu dem Feuer eilt.
 
Denn vor dem düstern Winter, der zu Paris nun summet,
Erlischt dein Sonnenschein des Orients, verstummet
Dein Traum von Asien, und du erblickest nur
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Vor dir die Straße mit dem wohlbekannten Lärmen,
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Und Nebelstreifen, die um deine Fenster schwärmen,
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Und an den spitzen Dächern des Rauches schwarze Spur.
 
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Dann scheiden dir in Menge Sultane und Sultanen,
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Palmbäume, Pyramiden, Galeeren, Capitanen,
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Der vielgefräß’ge Tiger, der Alles wild verschlingt,
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Die Djinns mit tollem Flug, Tänze der Bajaderen,
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Die Araber, die mit den Dromedaren kehren
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Und die Giraffe, die im Lauf so ungleich springt;
 
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Die weißen Elephanten, die braune Frauen tragen,
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Städte mit hohen Kuppeln, wo gold’ne Monde ragen,
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Magier, Baals Priester, Imans des Mahomed,
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Das Alles flieht, verschwindet; kein Harem mehr im Blühen
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Und kein Gomorrha mehr, das hellen Scheines Glühen
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Auf’s dunkle Babel wirft, kein maurisch Minaret. –
 
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Das ist Paris, der Winter. – Deinen verwirrten Liedern
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Verweigert Alles sich, es wird sie Nichts erwiedern;
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Paris, das weite, ist dem Klephten viel zu klein;
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Es würde dort der Nil die Ufer übersteigen,
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Bengalens Rosen frören, wo selbst die Grillen schweigen;
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In diesem Nebel würden erstarrt die Peri’s sein.
 
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Dann, unbefang’ne Muse, den Orient beklagend,
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Kommst du zu mir, fast nackt, die Augen niederschlagend.
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„– Hast du nicht, sagst du mir, im Herzen, das noch glüht,
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Etwas zu singen, Freund! es langweilt mich vor Allen,
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Seh’ ich von deinem Fenster den dichten Regen fallen,
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Da mich vor Kurzem noch der Sonne Glanz durchglüht.“
 
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Dann nimmst du meine Hände mit deinen beiden Händen,
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Wir setzen, wo sich nicht Profane zu uns wenden,
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Uns hin, die süßeste Erinn’rung biet’ ich dir,
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Von meiner Jugend, von den Spielen der Genossen,
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Der Jungfrau Reden, die so oftmals mich verdrossen,
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Jetzt eines Andern Weib, beglückte Mutter hier.
 
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Sieh, dann erzähl’ ich auch, wie in den Klostergängen
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Die Glocken mich erfreuten mit ihren Silberklängen,
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Wie meine Freiheit wild und jugendlich erwacht,
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Und daß ich zehn Jahr alt, wenn still der Abend graute,
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Mit ernstem Suchen nach des Mondes Augen schaute,
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Wie sich die Blume öffnet in lauer Sommernacht.
 
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Dann siehst du mit dem Fuß mich auch die Schaufel schwingen,
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Von der die Stricke knarrend am alten Baume hingen,
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Fort! daß es uns’rer Mutter stets große Angst gemacht;
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Dann nenn’ ich dir darauf der span’schen Freunde Namen,
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Madrid, wo ärgerlich wir in die Schule kamen,
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Und für den großen Kaiser der Kinder Kampf und Schlacht;
 
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Den guten Vater noch, und manche Jungfrau, scheidend
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Mit fünfzehn Jahren, Blumen, den frühen Tod erleidend
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Allein die erste Liebe ist dir vor Allem werth,
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Der frische Schmetterling, deß Flügel, kaum berühret,
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Den Glanz verliert, der fliehend ein neues Dasein führet,
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Und der nur einen Tag in unsern Tagen währt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.8 KB)

Details zum Gedicht „November“

Autor
Victor Hugo
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
506
Entstehungsjahr
1848
Epoche
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht stammt von Victor Hugo, einem französischen Dichter, der von 1802 bis 1885 lebte. Hugo zählt zu den bedeutendsten Autoren der französischen Romantik, welche sich etwa von 1800 bis 1840 erstreckt.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht in zehn Strophen unterteilt ist, die jeweils aus sechs Versen bestehen. Dies deutet auf eine strukturierte, durchdachte Dichtform hin. Das Gedicht trägt den Titel „November“, sodass der Jahreszeit und vermutlich auch der Stimmung, die diese mit sich bringt, eine entscheidende Rolle zugedacht scheint.

Inhaltlich scheint das lyrische Ich in nostalgischer Wehmut die herannahenden spätherbstlichen bzw. winterlichen Gegebenheiten zu beschreiben. Die dunkler werdenden Tage und die damit verbundenen Novembernebel lösen eine gewisse Kreativitätsflut in der Muse, also dem Inspirationsgeist des lyrischen Ichs, aus. Hier zieht sich die Muse jedoch zurück und erinnert sich an vergangene, womöglich glücklichere und lebendigere Zeiten („dein Traum von Asien“). Gleichzeitig ist dies auch eine Anspielung auf den Orientalismus, der in der Romantik eine prominente Rolle spielte.

Neben der Personifikation der Muse verwendet Hugo auch eine metaphorische Sprache, welche reich an Symbolen ist. Der Nebel steht beispielsweise für Unsicherheit und Verwirrung, während das Erstarken des „düstern Winters“ die Melancholie und vermutlich auch die fehlende Lebensfreude darstellt.

Formal folgt das Gedicht einem regelmäßigen sechs-zeiligen Strophenaufbau, inhaltlich ist es dabei aber sehr komplex und facettenreich gestaltet. Die zahlreichen Anspielungen auf unterschiedliche Kulturen und Epochen lassen Hugos großes Wissen und seine Weltoffenheit erkennen.

Hugo nutzt in seinem Gedicht eine eloquente, pathetisch anmutende Sprache, die das melancholische Grundthema des Gedichts widerspiegelt. Lange, ausgeschmückte Sätze, eine reiche, bildhafte Symbolik sowie eine Vielzahl an kulturellen und historischen Anspielungen charakterisieren Hugos Stil in diesem Gedicht.

Zusammenfassend handelt es sich bei „November“ um ein stark melancholisches Gedicht von Victor Hugo, das durch seinen präzisen, eloquenten Stil und seine tiefgründige Symbolik besticht und den Leser in die schwermütige Gefühlslage des lyrischen Ichs und der Personifikation seiner Muse entführt. Es spiegelt in beeindruckender Weise die Stimmung und das typische Wetter der Novembermonate wider und liefert dabei eine tiefgründige Reflexion über Vergänglichkeit und Melancholie.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „November“ des Autors Victor Hugo. Im Jahr 1802 wurde Hugo in Besançon geboren. 1848 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 506 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 60 Versen. Ein weiteres Werk des Dichters Victor Hugo ist „Mondschein“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „November“ keine weiteren Gedichte vor.

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