Hofmannsthal, Hugo von - Reiselied (Gedichtinterpretation)

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Hugo von Hofmannsthal, Analyse, Referat, Hausaufgabe, Hofmannsthal, Hugo von - Reiselied (Gedichtinterpretation)
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Referat

Interpretation des Gedichtes „Reiselied“ von Hugo von Hofmannsthal

Reiselied
von Hugo von Hofmannsthal

Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
Kommen schon auf starken Schwingen
Vögel her, uns fortzutragen.
 
Aber unten liegt ein Land,
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.
 
Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
10 
Und die leichten Winde wehn.

(„Reiselied“ von Hugo von Hofmannsthal ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (23.6 KB) zur Unterstützung an.)

Das 1908 entstanden Gedicht „Reiselied“ von Hugo von Hofmannsthal handelt von der seelischen Flucht der Menschen aus der Realität.

Hugo von Hofmannsthal (geboren am 1. Februar 1874 in Wien; gestorben am 15. Juli 1929 in Rodaun bei Wien) war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Librettist sowie Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Er gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten des deutschsprachigen Fin de Siècle und der Wiener Moderne.

Die erste Strophe des Gedichtes erscheint expressiv, da das lyrische Wir seine Empfindungen bei der Betrachtung der äußeren Situation verdeutlicht. In der zweiten und dritten Strophe des Gedichtes gibt es dagegen keinen Sprecher. Es wird also nur die äußere Situation geschildert, daher haben beide Strophen eher einen darstellenden Charakter. Die Expressivität des lyrischen Wir fließt jedoch auch in die Strophen ohne Sprecher mit ein, sodass diese auch indirekt leicht expressiv wirken.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen, von denen die erste Strophe vier Verse, die zweite und dritte jeweils drei Verse haben. Den klingenden Kadenzen des Kreuzreims der ersten Strophe in Vers 6 und 9 stehen die stumpfen Kadenzen der dreifachen Reimreihe der anderen beiden Strophen gegenüber. Der vierhebige Trochäus sowie die dreifache Reimreihe unterstützen den fließenden Rhythmus des „Reiseliedes“ ebenso wie die Zeilensprünge (Vers 3f.,6f.,8f.), die in jeder Strophe vorhanden sind.

Alle diese Elemente machen die Zusammengehörigkeit der zweiten und dritten Strophe und damit die Abgrenzung von der ersten Strophe deutlich.

Die erste Strophe ist voller Bewegung. Das lyrische Wir scheint vom Wasser verschlungen und vom Fels erschlagen zu werden, was eine bedrohliche Stimmung erzeugt. Doch kräftige Vögel kommen, um es „fortzutragen“. Der Blick des Betrachters ist generell nach oben gerichtet, die Blickrichtungen wechseln jedoch sehr schnell, sodass eine hektische und sogar gehetzte Stimmung geschaffen wird.

Die Seelenlage in der zweiten Strophe ist genau gegensätzlich zur Ersten. Durch die Bewegungslosigkeit entsteht eine vollkommene Ruhe, die durch den weiten, nach unten gerichteten Blick in ein fruchtbares Tal unterstützt wird.

In der dritten Strophe wird dieses Land im Detail beschrieben, so kann man „leichte Winde“ wehen sehen, die das Bild wieder in Bewegung bringen. Die „Marmorstirn“, der „Brunnenrand“ und das „blumige Gelände“ verleihen dem Ganzen allerdings etwas Künstliches.

Die verwendeten rhetorische Figuren unterlegen das Motiv und die Aussage des Gedichtes.

Die Personifikation des Wassers mit „zu verschlingen“ (Vers 1) und des Felsens mit „zu erschlagen“ (Vers 2) kreieren eine sehr bedrohliche und ängstigende Stimmung. Bei dem Verb „verschlingen“ denkt man eher an blutrünstige Raubtiere als an Wasser. So entsteht auch das Gefühl verfolgt zu werden, und damit eine sehr gehetzte Stimmung. Die Ellipse „Rollt der Fels uns zu erschlagen“ (Vers 2) verstärkt diese verfolgende Aktivität des normalerweise unbeweglichen Felsens. Das Hyperbaton „Kommen“ und die s-Alliteration „schon auf starken Schwingen“ (Vers 3) unterstützen die empfundene Bewegung in dieser Strophe. Durch die Hyperbel „Vögel her, uns fortzutragen“ (Vers 4) wird die Flucht des lyrischen Wir aus der bedrohlichen Stimmung und dem Chaos verdeutlicht und herausgestellt.

Die einwendende Konjunktion „Aber“ (Vers 5) kündigt einen Gegensatz und damit einen Stimmungswechsel an und macht auf das durch „liegt“ (Vers 5) vermenschlichte „Land“ aufmerksam, welches Passivität ausdrückt und somit ein Gefühl von Ruhe, Gelassenheit, Harmonie und Harmlosigkeit vermittelt.

Die Synästhesie „Früchte spiegelnd“ (Vers 6) erzeugt, verbunden mit den beiden Hyperbeln „ohne Ende“ (Vers 6) und „In den alterslosen Seen“ (Vers 7), das Bild eines fruchtbaren Paradieses, in dem man sorglos bis in alle Ewigkeit leben kann.

Die Zweierfigur „Marmorstirn und Brunnenrand“ (Vers 8) betont die Künstlichkeit dieser beiden Gegenstände, die zusammen mit dem „blumigen Gelände“, auf dem sie sich befinden und das man mit einem künstlich angelegten Park verbinden kann, die einzige von Menschenhand erschaffene Unnatürlichkeit in diesem Gedicht darstellt. Mit der Alliteration „Winde wehen“ (Vers 10) gerät das vorher noch ziemlich starre Bild wieder in Bewegung und erhält ein wenig von seiner Natürlichkeit zurück. Das vorgestellte Adjektiv „leichten“ (Vers 10) verleiht dem Wind Sanftheit und beinahe Zartheit, was wiederum Misstrauen an diesem Bild der Vollkommenheit und Harmonie weckt und somit das Trügerische dieser scheinbar so perfekten Welt hervorhebt. Dadurch wird wieder und abschließend an die unwirkliche und künstliche Welt des Traums, in die sich das lyrische Wir vor der Realität flüchtet, erinnert.

Das Gedicht „Reiselied“ handelt von der seelischen Realitätsflucht der Menschen, die sich aus Angst vor der ihnen bedrohlich und abstoßend erscheinenden Wirklichkeit in eine imaginäre und künstlich erschaffene irreale Welt, in eine Art fantastischen Traum, zurückziehen. Um diese Flucht deutlich zu machen, wird der inhaltliche Kontrast und die gravierend unterschiedlichen Stimmungen zwischen der ersten und den letzten beiden Strophen durch die äußere Form verstärkt. Auch die Überschrift „Reiselied“ erinnert an eine Wanderschaft der Seele durch verschiedene Stimmungen, deren Ziel eine unwirkliche und eingebildete Traumwelt ist.

Wird nur die äußere Form und die Sprache des Gedichtes beachtet, so ist es eher in den Impressionismus einzuordnen. Einen Beleg dafür stellt vor allem die Verwendung eines lyrischen Wir dar, das seine Gefühle bei der Betrachtung der Natur ausdrückt. Auch die Passivität der Menschen, welche die Natur nur ansehen, aber nicht aktiv in sie eingreifen, spricht für den Impressionismus. Ebenso ist die Beschreibung der Natur, die Gefühle und Stimmungen erweckt, sowie die Abwendung von der Wirklichkeit, welche aus der Aussage hervorgeht, typisch impressionistisch. Auf diese Aussage gestützt, bilden sich aber auch symbolistische Merkmale heraus, da die Ablehnung der Realität, das Anti-naturalistische sogar noch mehr für den Symbolismus kennzeichnend ist. Unter biografischen Gesichtspunkten betrachtet, wird in diesem Gedicht Georges Einfluss auf Hofmannsthal sichtbar, da es so erscheint, als ob es sich bei dem lyrischen Wir um eine Elite von Ästheten und Symbolisten handelt, wie sie George etablieren wollte.

Objektiv betrachtet setzt Hofmannsthal sein genaues Bild von seiner Zeit und sein Krisenbewusstsein ideal in dem Gedicht „Reiselied“ um. Die verwendete Sprache, die Struktur, der Inhalt und die erzeugten Wirkungen unterstützen sich gegenseitig und erzielen so ein fantastisches Ergebnis. Die gewählte Überschrift „Reiselied“ passt zwar zu der Aussage, sie hat aber ebenso eine verharmlosende Wirkung auf den Leser und verstärkt so das in den letzten beiden Strophen erschaffene Trugbild einer vollkommenen und sicheren Welt.

Wird das Gedicht unter subjektiven Aspekten bewertet, so ist zu sagen, dass Hofmannsthal mit „Reiselied“ ein Gedicht voller Rhythmus und Klang geschaffen hat, bei dem wirklich der Eindruck erweckt wird, sich zu bewegen. Die sehr bildhafte Sprache regt die Fantasie und das Vorstellungsvermögen der Leser an, was dem Gedicht einen lebendigen Charakter und somit seinen Reiz verleiht. Allerdings erscheint es im ersten Moment sehr oberflächlich zu sein und keine tiefere Bedeutung zu haben, da rein äußerlich scheinbar nur die wahrgenommene, natürliche Umgebung auf einer Wanderung beschrieben wird.

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