Das Schicksal von Christian Fürchtegott Gellert

1	O Mensch! was strebst du doch den Ratschluß zu ergründen,
2	Nach welchem Gott die Welt regiert?
3	Mit endlicher Vernunft willst du die Absicht finden,
4	Die der Unendliche bei seiner Schickung führt?
5	Du siehst bei Dingen' die geschehen,
6	Nie das Vergangne recht und auch die Folge nicht;
7	Und hoffest doch den Grund zu sehen,
8	Warum das, was geschah, geschieht
9	Die Vorsicht ist gerecht in allen ihren Schlüssen.
10	Dies siehst du freilich nicht bei allen Fällen ein;
11	Doch wolltest du den Grund von jeder Schickung wissen:
12	So müßtest du, was Gott ist, sein.
13	Begnüge dich, die Absicht zu verehren,
14	Die du zu sehn, zu blöd' am Geiste bist;
15	Und laß dich hier ein jüdisch Beispiel lehren,
16	Daß das, was Gott verhängt, aus weisen Gründen fließt
17	Und, wenn dir's grausam scheint, gerechtes Schicksal ist.
18	Als Moses einst vor Gott auf einem Berge trat
19	Und ihn von jenem ew'gen Rat,
20	Der unser Schicksal lenkt, um größre Kenntnis bat:
21	So ward ihm ein Befehl, er sollte von den Höhen,
22	Worauf er stund, hinab ins Ebne sehen.
23	Hier floß ein klarer Quell. Ein reisender Soldat
24	Stieg bei dem Quell von seinem Pferde
25	Und trank. Kaum war der Reiter fort,
26	So lief ein Knabe von der Herde
27	Nach einem Trunk an diesen Ort.
28	Er fand den Geldsack bei der Quelle,
29	Der jenem hier entfiel; er nahm ihn und entwich:
30	Worauf nach eben dieser Stelle
31	Ein Greis gebückt an seinem Stabe schlich.
32	Er trank und setzte sich, um auszuruhen, nieder;
33	Sein schweres Haupt sank zitternd in das Gras,
34	Bis es im Schlaf des Alters Last vergaß.
35	Indessen kam der Reiter wieder,
36	Bedrohte diesen Greis mit wildem Ungestüm
37	Und forderte sein Geld von ihm.
38	Der Alte schwört, er habe nichts gefunden,
39	Der Alte fleht und weint, der Reiter flucht und droht
40	Und sticht zuletzt mit vielen Wunden
41	Den armen Alten wütend tot.
42	Als Moses dieses sah, fiel er betrübt zur Erden;
43	Doch eine Stimme rief: »Hier kannst du inne werden,
44	Wie in der Welt sich alles billig fügt;
45	Denn wiss': es hat der Greis, der itzt im Blute liegt,
46	Des Knabens Vater einst erschlagen,
47	Der den verlornen Raub zuvor davongetragen.«

Details zum Gedicht „Das Schicksal“

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Das Schicksal“ ist Christian Fürchtegott Gellert. Gellert wurde im Jahr 1715 in Hainichen geboren. Zwischen den Jahren 1731 und 1769 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Aufklärung zuordnen. Der Schriftsteller Gellert ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 47 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 351 Worte. Weitere Werke des Dichters Christian Fürchtegott Gellert sind „Das Testament“, „Der reiche Geizhals“ und „Der Leichtsinn“. Zum Autor des Gedichtes „Das Schicksal“ haben wir auf abi-pur.de weitere 164 Gedichte veröffentlicht.

Weitere Gedichte des Autors Christian Fürchtegott Gellert (Infos zum Autor)

• Der Selbstmord
• Nicht jede Besserung ist Tugend
• Der Jüngling und der Greis
• Krispin und Krispine
• Das Testament
• Der reiche Geizhals
• Der Leichtsinn
• Das Kind mit der Schere
• Der junge Krebs und die Seemuschel
• Das Glück und die Liebe

Zum Autor Christian Fürchtegott Gellert sind auf abi-pur.de 164 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.