Elmire und Selinde von Christian Fürchtegott Gellert

1	Mit ihren Kränzen in den Haaren
2	Erschienen einst vor Charons Kahn
3	Zwo Jungfern in den besten Jahren
4	Und wollten eilends überfahren.
5	Der Schiffer, sonst ein finstrer Mann,
6	Sah seine Schönen freundlich an:
7	»Ihr Kinder, kommt ihr gar zu Paaren?
8	Was hat euch denn die Oberwelt gethan?
9	Vor kurzem kam ein hübscher Jüngling an;
10	Du da in deinen schwarzen Haaren,
11	War dieses etwan dein Galan?
12	Ich möcht' es bald aus deinen Augen lesen.
13	Und du dort, lächelndes Gesicht,
14	Nicht wahr, ihr seid verliebt gewesen?
15	Gesteht mir's, eher fahr' ich nicht.«
16	»Mein Herr, was will Er mit der Liebe?«
17	Fiel ihm Elmire hitzig ein.
18	»Kann man denn ohne diese Triebe
19	Kein schön und glücklich Mädchen sein?
20	Was? Ich verliebt? Er irrt sich. Nein,
21	Ich kann es Ihm durch einen Eid versichern,
22	Daß ich bei meinem hohen Stand,
23	Dank sei's der Tugend und den Büchern!
24	Die Liebe nicht gewünscht, noch weniger gekannt.
25	Und kurz, was brauch' ich mehr zu sagen,
26	Da ich die Liebe stets verschmäht?
27	Verschon' Er mich mit solchen Fragen,
28	Wovon vielleicht Selinde mehr versteht.
29	Ich«, sprach sie, »will's aufrichtig sagen:
30	Ich schäme mich der süßen Schwachheit nicht.
31	Mein Schäfer war, wie man in unsrer Sprache spricht,
32	Mein größter Wunsch, und ich sein Glück und sein Gedicht.
33	Ich gab ihm oft Gelegenheit zum Küssen
34	Und tat, als wollte mich's verdrießen;
35	Doch in der Tat verdroß mich's nicht.
36	Ich zürnte, wenn er zärtlich red'te;
37	Und hätte doch geweint, wenn er geschwiegen hätte.
38	Ich schalt ihn, daß er mir von nichts als Liebe schrieb
39	Und meinen Reiz in Liedern übertrieb;
40	Im Herzen aber war mir's lieb.
41	Ich ließ mich oft von ihm nachlässig überschleichen
42	Und floh geschwind und ließ im Weichen
43	Geschickt ihm Zeit, mich zu erreichen.
44	So hab' ich unschuldsvoll, bis mich der Tod ereilt,
45	Ein zärtlich Herz mit ihm geteilt.«
46	»Gut«, fing der Fährmann an, »gleich wird sich's offenbaren,
47	Wer unter euch den Kranz mit Ehren trägt.
48	Sobald ich meinen Kahn bewegt:
49	So wird er der, die nicht mit Recht ihn trägt,
50	Mit Ungestüm vom Kopfe fahren.
51	Kommt, Kinder, kommt, damit wir's sehn!«
52	Den Augenblick riß ihn Elmire von den Haaren:
53	Allein Selinde ließ ihn stehn.

Details zum Gedicht „Elmire und Selinde“

Gedicht-Analyse

Christian Fürchtegott Gellert ist der Autor des Gedichtes „Elmire und Selinde“. Der Autor Christian Fürchtegott Gellert wurde 1715 in Hainichen geboren. In der Zeit von 1731 bis 1769 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Aufklärung kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 355 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 53 Versen. Weitere Werke des Dichters Christian Fürchtegott Gellert sind „Der junge Krebs und die Seemuschel“, „Das Glück und die Liebe“ und „Die beiden Wandrer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Elmire und Selinde“ weitere 164 Gedichte vor.

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• Nicht jede Besserung ist Tugend
• Der Jüngling und der Greis
• Krispin und Krispine
• Das Testament
• Der reiche Geizhals
• Der Leichtsinn
• Das Kind mit der Schere
• Der junge Krebs und die Seemuschel
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Zum Autor Christian Fürchtegott Gellert sind auf abi-pur.de 164 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.