Als ich von Livland aus zu Schiffe ging von Johann Gottfried Herder

Sieh, Freund, da fliehn sie hin im Ungewitter,
Die Freunde meiner Jugend! Sie,
Die liebekühn uns bis zur Grenze folgten
Des alten Oceans.
 
Am Himmel traten vor des Vaters Antlitz
Die Sterne, Abendstern und Mond!
Er segnet' sie hinweg. Da rief zum Meer uns
Der wehnde Himmelssohn.
 
Da schied der letzte Kuß. An's Oceanes
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Wildwehndem, unabsehbarn Reich,
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In reger Lust, im Angesicht des Himmels
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Der treuste letzte Kuß,
 
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Der je geschieden ward! Und ach! nie rascher,
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So bebend furchtbar schwankender
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Hinweggeschieden! Hier an zweer Schiffe
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Aufbebend fliehndem Rand
 
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Ein Ungewitter riß ihn! Ahnungsdonner
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Wie? ahnetest Du ewig ihn,
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Den Kuß der Trennung? soll er nimmer werden
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Der Kuß des Kommenden?
 
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Zu ihren Hütten kommend! - Zu den Hütten
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Der Noth und Freude, wo sie jetzt
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Hinkehren - blicken noch vom schwanken Boote
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Mit Thränen nach uns her,
 
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Mit Thränen nach uns her! und senden Boten,
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Der Freundschaft Seufzer, uns nur weg,
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Nur weg zu flügeln! Sieh! da ist ihr Boot nur
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Schon Wolke - nur ein Punkt,
 
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Ein schwarzer Punkt im Meer. O Freund, wie Alles,
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Einst Alles, Alles uns wird sein
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Ein schwarzer Punkt im Meer! Verlorne Freunde
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Und Freud' und Lebenszeit
 
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Im Ungewitter abgerissen! Schone,
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Du wilder Sohn des Himmels, Du!
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Du kehrst mit ihnen eine Welt voll edler
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Verlorner Freund' hinab!
 
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Sie waren edel, waren meiner Jugend
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Der schönste Theil! die Lebenszeit
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Der Freude! waren mir wie jene Fluren,
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Die ich genoß und sang!
 
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Genoß und sang! Dort fliehn sie, Freund' und Fluren,
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Genossen und verloren mir,
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Wie Lenz', ach! nimmer, nimmer wiederkehrend,
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Freund, wie uns einst die Welt!
 
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Denn sieh, dort sinkt der Himmel, dessen Kindern,
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Dem holden West- und Abendroth
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Und ihrer holdren Schwester Morgenröthe,
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Wir dort um Gunst gebuhlt.
 
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Sieh noch den Himmel, Mann! er wird schon Wolke,
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Senkt scheidend schon sein Angesicht
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In trüben Meeressaum. Seh' ich Dich wieder,
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Du scheidend Himmelszelt?
 
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Seh' ich Dich wieder? Ach, da wall' ich Fremdling
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Auf offnem, weiten Meere nun!
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Geh', wie ich zu ihm kam! So höre, Himmel,
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Des Fremdlings Scheidewort!
 
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Hör es, das dort wie Opferwolke dämmert,
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Mein zweites, holdres Vaterland,
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Du, dem den Fremdling Ungefähr und Leichtsinn
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Warf in den Mutterschooß!
 
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Dein Mutterschooß empfing den Fremdling sanfter
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Als sein verjochtes Vaterland!
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Ihn sanfter als die eignen Halbgebornen!
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Und liebtest mütterlich,
 
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Gabst mütterlich dem Fremdling Wunsch und Hoffnung,
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Arbeit und Muse, Freud' und Brod
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Und Neidessporn, ihn anzuglühn! und gabst ihm
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Der Freunde warmes Herz,
 
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Der Freunde Herz, aus deren Bundesarmen
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Ich mich dort bitter weinend rang.
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Für Alles! Alles! segnet Dich der Fremdling!
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Mehr sagen kann er nicht!
 
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Und wallet hin auf Meer und Tod! - Ach, Alles!
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Wenn, Freund, dem sterbeletzten Blick
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Einst alle Welt, wie jener Mutterhimmel,
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In Wolke niedersinkt
 
77 
Mit Freund- und Freuden! Hab' und Ruhm und Leben!
78 
Wo, Pilger, wo dann schweben wir
79 
In Wüsten wilden Meers? - hin übern Spiegel
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Des Abgrunds? - übern Rand
 
81 
Der Schöpfungsstätte? Du, wie lange wallen
82 
Wir, Pilger! in der Einöd' dann?
83 
Wo uns kein irrer Vogel singet, keine
84 
Verschlagne Nachtigall!
 
85 
Nicht zweifle, Freund! Sieh, über uns hängt Himmel!
86 
Auch dann hängt Himmel über Dir,
87 
Wenn Alles rückbleibt! Hoffnung nicht! Ich trete
88 
Aufs schwarze Todesschiff
 
89 
Mit Hoffnung. Zittre, Charon, nicht! Du fährest,
90 
O Charon, einen Göttersohn!
91 
Ein Menschenwesen! - Mehr als Teucer führt uns!
92 
Da ruft schon Stimme: »Land!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.9 KB)

Details zum Gedicht „Als ich von Livland aus zu Schiffe ging“

Anzahl Strophen
23
Anzahl Verse
92
Anzahl Wörter
545
Entstehungsjahr
1769
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Als ich von Livland aus zu Schiffe ging“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, der vom 25. August 1744 bis zum 18. Dezember 1803 lebte. Somit fällt das Werk in die Epoche der Aufklärung und Weimarer Klassik.

Zunächst vermittelt das Gedicht den Eindruck eines Abschieds und einer tiefen Sehnsucht, was durch die zahlreichen Anspielungen auf Trennung und Entfernung deutlich wird. Es erzählt vom Aufbruch des lyrischen Ichs von Livland, während er seine Freunde und sein geliebtes Land zurücklässt. Es ist ein emotionaler Moment, gekennzeichnet durch einen letzten, bedeutungsvollen Kuss, Abschiedstränen und die schmerzvolle Verabschiedung von vertrauten Landschaften und Personen.

Das lyrische Ich bringt seine tiefe Trauer und die gleichzeitig innewohnende Hoffnung zum Ausdruck. Es wird deutlich, dass Herder den Leser dazu auffordern möchte, sich Gedanken über Themen wie Vergänglichkeit, Abschied und die Bedeutung von Heimat zu machen.

Das Gedicht ist in 22 Strophen unterteilt, jede Strophe besteht aus vier Versen. Es verwendet eine eher alte und traditionelle Sprache, die den pathetischen und emotionalen Charakter des Gedichts unterstreicht. Zahlreiche Metaphern und bildhafte Ausdrücke verstärken diese Wirkung. Herder nutzt beispielsweise den Ozean als Metapher für das Unbekannte, die Freundschaft wird durch die Worte „Bundesarmen“ symbolisiert, und die „Verschlagne Nachtigall“ steht als Symbol für die Einsamkeit und die Entfernung von der Heimat.

Die wiederkehrende Symbolik des Meeres und der Schiffe deutet eine Reise an, welche das lyrische Ich von seiner Heimat wegführt. Diese Reise ist geprägt von Abschiedsschmerz, vergangenen Freuden und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit durchzieht das ganze Gedicht und gibt ihm einen melancholischen Unterton.

Am Ende wendet sich das Gedicht dem Tod zu und verbindet die Vergänglichkeit des Lebens mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Trotz aller Abschiedsschmerzen und der Traurigkeit über den Verlust der Freunde und der Heimat, ist das Gedicht geprägt von einer tiefen Dankbarkeit für die gemachten Erfahrungen und einer positiven Erwartungshaltung gegenüber dem Unbekannten.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Als ich von Livland aus zu Schiffe ging“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1769 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet wird. Die Literaturepoche ordnet sich nach der Epoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen das gesellschaftliche System und die Prinzipien der Aufklärung wendeten. Die Vertreter des Sturm und Drang waren häufig junge Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Schriftsteller versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Schiller, Goethe und natürlich die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik ist eine Literaturepoche, die insbesondere von den Dichtern Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller geprägt wurde. Die Italienreise Goethes im Jahr 1786 markiert den Anfang der Epoche. Das Todesjahr von Goethe, 1832, markiert das Ende der Weimarer Klassik. In der Literaturepoche sind Einflüsse der Französischen Revolution festzustellen. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Die Klassik orientiert sich an traditionellen Vorbildern aus der Antike. Sie strebt nach Harmonie ganz im Gegensatz zur Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drangs. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik kennzeichnend. Während man in der Epoche des Sturm und Drangs die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die bedeutendsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Andere Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden letztgenannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.

Das vorliegende Gedicht umfasst 545 Wörter. Es baut sich aus 23 Strophen auf und besteht aus 92 Versen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Bilder und Träume“, „Das Flüchtigste“ und „Das Gesetz der Welten im Menschen“. Zum Autor des Gedichtes „Als ich von Livland aus zu Schiffe ging“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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