An den abwesenden Freund von Johann Gottfried Herder

Wo bist Du, Zärtlicher, den mein Gedanke küsset,
Nach dem mein Seufzer seufzt und stille Sehnsucht brennt,
Wo bist Du? Sähest Du, wie Dich die Thräne misset,
Die aus dem Auge stirbt und sterbend Dich noch nennt!
Wie in der Einsamkeit, wenn, müde von Geschäften,
Der Geist kaum Athem schöpft, er nichts sieht als Dein Bild,
Wie uns der Himmel einst, als Jüngling', gleich an Kräften
Genährt, da floß er klar, jetzt ist er eingehüllt;
Da floß Dein Arm um mich, und Deine Lippen sprachen
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Der Freundschaft sanften Ton, wie ihn das Herz gebar;
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Empfindung seufzete, und Thränen unterbrachen
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Des Herzens süßen Ton, der uns ein Himmel war.
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Der Himmel ist nicht mehr! Hier wecket meine Zähre
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Die Deine; Thräne, flieh und rühre ihn, den Freund!
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Unmännlich ist sie nicht; sie ist der Freundschaft Ehre,
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Weil sie die Zärtlichkeit, die Menschheit selbst geweint.
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Wir sind nicht mehr vereint, uns trennen größte Weiten!
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Du, Schicksal, trenntest uns mit gar zu harter Hand.
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So reißt ein früher Tod die Gattin von der Seiten
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Des Gatten, der erst Lust, jetzt doppelt Schmerz empfand.
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Hier seufze ich nach Ruh und seufze nur vergebens;
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Er flieht, der traur'ge Gram, und kommt versteckt zurück.
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Dort weinst Du vaterlos und weinest nur vergebens;
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Bringt eine Thräne wol den Todten noch zurück?
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Nein, auch den Vater nicht; er siehet von den Sternen
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Dein, seines Kindes, Gram, der doch umsonst ihn klagt,
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Hat Mitleid mit Dir, Freund, und wünscht in sel'gen Fernen
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Dir Gottes Weisheit zu, die leeren Schmerz verjagt.
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Auch ich, ich fasse mich; Geschick kann Leiber trennen,
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Doch Herzen kann es nicht; die lieben ihm zum Trutz.
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Wenn Dich mein Aug' nicht nennt, soll mein Gedank Dich nennen,
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Und küßt Dich nicht mein Mund, küßt Dich die Phantasei.
33 
Oft in der Einsamkeit will ich Dir Seufzer schicken:
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»Nehmt, Zephyrs, leitet sie und drückt sie an sein Herz!«
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Und Dein Gedank an mich, wie wird er mich erquicken!
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Wenn Ahndung ihn mir sagt, dann lindert sich mein Schmerz.
37 
Wenn schon die Zunge lallt, soll sie noch halb Dich sprechen;
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Wenn einst das Auge bricht, sieht es Dich, Freund, und stirbt.
39 
Noch flammt die Seele auf, denkt Dich und - und muß brechen,
40 
Wie eine Flamme glimmt, auflodert und dann stirbt.
41 
Ruht unser Aschenkrug dereinst getrennt im Grabe,
42 
An dem mit stiller Pracht Cypressen einsam blühn,
43 
So rausche sanfter Schau'r noch oft von Grab zu Grabe,
44 
So sprech' ein frommer Greis: »Ruht! ich will zu Euch fliehn!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.7 KB)

Details zum Gedicht „An den abwesenden Freund“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
408
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht trägt den Titel „An den abwesenden Freund“ und stammt von Johann Gottfried Herder, einem bedeutenden Dichter und Philosophen der deutschen Aufklärung, der von 1744 bis 1803 lebte. Es kann daher zeitlich der Ära der Aufklärung, genauer dem ausgehenden 18. Jahrhundert zugeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist durch starke Emotionen und tiefe Sehnsucht geprägt. Das Gedicht ist eine Anrufung an einen abwesenden Freund und die Stärke der Emotionen zeugt von einer tiefen freundschaftlichen Liebe und Verbundenheit, die das lyrische Ich mit diesem Freund verbindet.

Inhaltlich handelt das Gedicht von der tiefen Sehnsucht und Trauer des lyrischen Ichs nach seinem abwesenden Freund. Das Ich ist emotional sehr betroffen von der Trennung und verwendet starke, emotionale Bilder um seine Gefühle auszudrücken, wie zum Beispiel das Bild der Träne, die für den Freund weint, oder das Bild der Seufzer, die nach dem Freund seufzen. Der Freund wird als eine beinahe schon überlebenswichtige Existenz dargestellt, deren Fehlen das lyrische Ich stark belastet.

Die Form des Gedichts ist gekennzeichnet durch 44 Verse, die in einer einzigen Strophe zusammengefasst sind. Die strenge, lange Form wird jedoch durch die emotionale, fließende Sprache der Verse aufgelockert und wirkt auf diese Weise weniger starr und formal. Der Stil des Gedichts ist geprägt durch die intensive, emotionale Sprache und die vielen personifizierten Naturbilder, die zum Ausdruck der Gefühle des lyrischen Ichs verwendet werden.

Insgesamt stellt das Gedicht eine sehr emotionale Ode an einen abwesenden Freund dar und zeugt von der tiefen Trauer und Sehnsucht, die das lyrische Ich aufgrund seiner Abwesenheit empfindet. Der Ausdruck dieser Gefühle durch die starken Bilder und die emotionale Sprache machen das Gedicht zu einem eindrucksvollen Zeugnis der Freundschaft und der emotionalen Tiefe, die sie erreichen kann.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An den abwesenden Freund“ des Autors Johann Gottfried Herder. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1760 und 1803. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen die aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Autoren der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Auf zeitlicher Ebene lässt sich die Weimarer Klassik mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Zwei gegensätzliche Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt. Die Aufklärung und die gefühlsbetonte Strömung Sturm und Drang. Die Weimarer Klassik ist eine Synthese dieser beiden Elemente. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Die Klassik orientiert sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Sie strebt nach Harmonie ganz im Gegensatz zur Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drangs. In der Gestaltung wurde das Gültige, Gesetzmäßige, Wesentliche aber auch die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache häufig derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die bedeutendsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekannte Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden letztgenannten arbeiteten jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Goethe und Schiller.

Das vorliegende Gedicht umfasst 408 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 44 Versen. Die Gedichte „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „An den abwesenden Freund“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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