Die Stimme zur Mitternacht von Johann Gottfried Herder

»Wachet, wachet!« ruft die Stimme
Der Wächter auf des Tempels Zinne;
»Wach auf, Du Stadt Jerusalem!«
Mitternacht heißt diese Stunde;
Sie rufen uns mit hellem Munde:
»Wo seid Ihr klugen Jungfrauen?
Steht auf! der Bräut'gam kommt.
Auf! Eure Lampen nehmt,
Hosianna!
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Macht Euch bereit
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Zur Freudenzeit!
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Ihr müsset ihm entgegengehn!«
 
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»Ach, wir schlummern All' und schlafen!
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Der Hirte schlummert mit den Schafen;
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Die Lamp' ist da! wo ist das Licht?
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Wie es war in Noah Tagen,
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Sie aßen, tranken, fern von Plagen,
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Von Strafen fern, und dachten's nicht;
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Wir frei'n und lassen frei'n;
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Die Sorge wiegt uns ein,
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Wurmessorge!«
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»Erwacht! Erwacht!
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In Mitternacht
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Ein Blitz soll seine Ankunft sein!«
 
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Falsche Christus und Verräther,
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Vernunft-Verführer, Wunderthäter
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Der Lüge sind das Licht der Welt.
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Meinst Du, daß der Richter werde
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Noch Glauben finden auf der Erde,
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Wenn Wollust sie in Fesseln hält?
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Ihr Hügel, fallet, fallt!
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Der Menschen Herz ist kalt,
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Kalt die Liebe!
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Voll Heuchelei
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Abgötterei,
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Sieh, ob nicht Alles, Alles sei!
 
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Schlangen sind der Völker Kronen,
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Und Nationen Nationen
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Zur Geißel statt der Bruderhand;
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Mütter, Töchter, Söhne, Väter
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In einem Hause sind Verräther,
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Zerreißen Blut- und Herzensband!
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Wo meinet Freund und Freund
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Sich bieder? wo vereint
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Pflicht die Herzen?
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Pflicht und Gebet
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An heil'ger Stätt',
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Das ewiglich bei Gott besteht.
 
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Ach, wie schlummern All' und schlafen!
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Der Hirte schlummert mit den Schafen;
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Die Lamp' ist da! wo ist das Licht?
52 
Mit den Trunknen schläfrigtrunken,
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In Nacht und Wahn und Graus versunken,
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Ach, sehen wir und hören nicht!
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Wer trägt nicht Thieres Bild?
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Wer, dem das Herz nicht füllt
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Erdensorge?
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Ist Mitternacht!
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Erwacht, erwacht!
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Blitzschnell erscheint des Menschen Sohn.
 
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Meinst Du, wenn der Hausherr wüßte,
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Zu welcher Stund' er wachen müßte,
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Er pflegen würde träger Ruh?
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Sieh, und alle Frommen zagen,
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Verschmachten unter stillen Plagen,
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Und Alle sehn wir trunken zu?
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Im Feigenbaume steigt
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Der Saft schon! Knospe zeigt
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Frühlingszeiten!
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Hebt Euer Haupt!
71 
Umlaubt, umlaubt
72 
Mit Frühling ist, wer an ihn glaubt.
 
73 
Trunkne Knechte, sieh! sie schlagen
74 
Die Brüder Mitknecht', höhnen, plagen,
75 
Statt Labung, sie mit Drang und Spott.
76 
Meinst Du, daß der König werde
77 
Noch Knechte finden auf der Erde?
78 
Wer ist sich selbst nicht Herr und Gott?
79 
»Er kommt noch lange nicht!
80 
Vielleicht kommt gar er nicht!
81 
Er kommt gar nicht!
82 
Was Alle thun,
83 
Will ich auch thun
84 
Und träumen, prassen, plagen, ruhn!«
 
85 
Herr, wer wird vor Dir bestehen!
86 
Wer vor Dein Angesicht zu gehen
87 
Erkühnen, wenn die Erd' entflieht!
88 
Ach, ein Strohhalm in die Flammen
89 
Ist all mein Tagewerk zusammen,
90 
Wenn's Liebe aus der Gluth nicht zieht!
91 
Erlöser, stehe bei!
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Erneuer, mach uns neu,
93 
Betend, brünstig,
94 
In Mitternacht,
95 
Wenn nichts mehr wacht!
96 
Wir schlummern, unser Herze wacht!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31 KB)

Details zum Gedicht „Die Stimme zur Mitternacht“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
96
Anzahl Wörter
439
Entstehungsjahr
1773
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht ist „Die Stimme zur Mitternacht“ von Johann Gottfried Herder (1744-1803), einem berühmten Dichter und Philosophen der deutschen Aufklärung und Wegbereiter der Romantik. Die thematische und formale Gestaltung des Gedichts spiegelt deutlich diese Zeitperiode wider.

Mein erster Eindruck von dem Gedicht ist, dass es stark biblisch inspiriert ist und viele religiöse Anspielungen enthält. Das allgegenwärtige Bild der Mitternacht, das als eine Art Metapher für das Ende der Zeit oder den Tag des Jüngsten Gerichts erscheint, dominiert das Gedicht.

Inhaltlich geht es im Großen und Ganzen um das moralische und spirituelle Erwachen der Menschheit inmitten der Dunkelheit (symbolisiert durch die Mitternacht). Das lyrische Ich warnt die Menschen vor der Trägheit und der Sünde, ruft zur Wachsamkeit auf, drängt zur Umkehr und Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi. Es werden immer wieder Krisenzeichen genannt, wie das Schwinden von Liebe und wahrhaftigem Glauben, Aberglaube, Heuchelei, Verrat, Gewalt, Materialismus und Selbstvergötzung.

Das Gedicht besteht aus acht Strophen, jede mit zwölf Versen, was eine hohe Regelmäßigkeit und eine strenge Form erkennen lässt. Es wechseln sich Mahnungen und Klagen, Fragen und Bitten sowie Ankündigungen und Appelle ab, die in ihrer Gesamtheit eine intensive und erregte Stimmung erzeugen.

Die Sprache des Gedichts ist geprägt von bildhafter Diktion und religiösem Vokabular, das seinen Reiz aus dem Spannungsverhältnis von traditionellen biblischen Bildern und modernen, zeitgemäßen Ausdrücken zieht. Es häufen sich rhetorische Figuren wie Ausrufe, Fragen, Anaphern („Wachet, wachet!“ oder „Erwacht, erwacht!“) und Metaphern („Die Lamp' ist da! wo ist das Licht?“). Damit schafft Herder eine eindringliche, bewegende und herausfordernde Atmosphäre, die von einem tiefen spirituellen Anliegen und starker emotionaler Beteiligung zeugt.

Insgesamt kann man sagen, dass Herders Gedicht „Die Stimme zur Mitternacht“ eine eindringliche Warnung und ein Appell an die Menschheit darstellt, den moralischen Abstieg zu stoppen, sich von materialistischen und egozentrischen Werten abzuwenden und das spirituelle Erwachen und die Rückkehr zur Liebe und zum wahren Glauben anzustreben.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Stimme zur Mitternacht“ ist Johann Gottfried Herder. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). Das Gedicht ist im Jahr 1773 entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet wird. Die Epoche ordnet sich nach der Literaturepoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen das gesellschaftliche System und die Prinzipien der Aufklärung wendeten. Die Autoren der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Die Schriftsteller versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Schiller, Goethe und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Literaturepoche der Klassik beginnt nach herrschender Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Einflüsse der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Ausgangspunkt und literarisches Zentrum der Weimarer Klassik (kurz auch oftmals einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Zu den essenziellen Motiven der Klassik gehören unter anderem Menschlichkeit und Toleranz. In der Lyrik haben die Dichter auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. So war beispielsweise die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders geschätzt. Des Weiteren verwendeten die Autoren jener Zeit eine gehobene, pathetische Sprache. Goethe, Schiller, Herder und Wieland bildeten das „Viergestirn“ der Klassik. Es gab natürlich auch noch weitere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das 439 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Amor und Psyche“, „An Auroren“ und „An den Schlaf“. Zum Autor des Gedichtes „Die Stimme zur Mitternacht“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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