Die Jüdin von Alfred Meißner
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Es hallen dumpf die Totenlieder, |
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Der alte Jud' zerreißt sein Kleid, |
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Doch senkt er keine Tote nieder, |
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Die man begräbt, die lebt in Freud' |
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Das Grab, das wartet. |
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So sit der Juden Brauch zu Lande |
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Schon aus uralter Zeit herab; |
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Wer sich von seinem Glauben wandte, |
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Der heißet tot, man gräbt sein Grab |
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Ein Grab, das wartet. |
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Der Trauerbaum, die Schrift am Steine |
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Tun Kunde, wann die sünd'ge Seel' |
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Gestorben ist für die Gemeine, |
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Fürs treue Volk von Israel |
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Das Grab, das wartet. |
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Fern zu Venedig, licht und helle |
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Zieht eine Gondel durch die Flut, |
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Drin sitzt der blonde Kriegsgeselle, |
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An seiner Brust die Jüdin ruht |
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Ihr Grab, das wartet. |
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Er küßt ihr Haar, küßt ihre Wangen, |
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Er nennt sie seine süße Braut; |
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Sie spielt mit seinen goldnen Spangen, |
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Streicht ihm den Bart und jubelt laut |
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Ihr Grab, das wartet. |
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Dann nachts im Saal bei Duft und Glanze |
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Schlägt sie die Zither beim Bankett, |
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Bis sie der schöne Christ vom Tanze |
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Heimführet in sein seidnes Bett |
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Ihr Grab, das wartet. |
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Doch einst, erwacht nach holdem Kosen, |
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Trifft sie zur Seit' das Lager leer; |
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Fern trägt das Schiff den Treuelosen |
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Mit vollen Segeln übers Meer |
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Das Grab, das wartet. |
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Die Jüdin rauft ihr Haar von Seiden, |
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Sie irrt am Strand umher und sucht; |
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Zum erstenmal mit tausend Leiden |
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Denkt sie des Worts: du bist verflucht |
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Dein Grab, das wartet! |
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Ein bettelnd Weib auf Alpenwegen |
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Zieht heimwärts sie durch Nacht und Wind, |
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Am Abgrund, ohne Trän' und Segen |
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Hat sie verscharrt ihr totes Kind |
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Ihr Grab, das wartet. |
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Daheim so stumm die Gräber trauern |
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Wer ist's der ihren Frieden bricht? |
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Ein Schatten sucht im Mondenlicht |
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Ihr Grab, das wartet. |
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Mit letzter Kraft der kranken Glieder |
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Rollt sie vom Grab' den breiten Stein, |
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Spricht das Gebet der Väter wieder, |
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Legt sich dann selbst ins Grab hinein |
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Es hat gewartet. |
Details zum Gedicht „Die Jüdin“
Alfred Meißner
11
54
306
1822 - 1885
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die Jüdin“ wurde von Alfred Meißner verfasst, einem Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, und kann daher in die Zeit der Romantik oder des Biedermeier eingestuft werden.
Auf den ersten Blick wird man von den düsteren und traurigen Bildern, die das Gedicht enthält, beeindruckt. Es handelt von einer jüdischen Frau, die ihr eigenes Grab sucht und findet. Die wiederholte Phrase „Das Grab, das wartet“ verstärkt die düstere Atmosphäre und lässt auf einen unglücklichen Ausgang schließen.
Im Gedicht wird die Geschichte einer jüdischen Frau erzählt, die sich in einen „blonden Kriegsgesellen“ verliebt und, seinetwegen ihren Glauben verlässt, um seine Geliebte zu werden. In den Strophen 4 bis 6 wird ihre Liebe und ihr Glück beschrieben. In der 7. Strophe verlässt der Geliebte sie jedoch und die Frau ist vom Schmerz und der Einsamkeit überwältigt. Dies führt dazu, dass sie sich als „verflucht“ ansieht und schließlich entscheidet, in ihr vorbereitetes Grab zu gehen.
Die Form des Gedichts ist recht strukturiert, mit jeweils fünf Versen pro Strophe, außer in der zehnten Strophe. Die Sprache des Gedichts ist klar und präzise, mit starken emotionalen Untertönen. Die Wiederholung der Phrase „Das Grab, das wartet“ am Ende jeder Strophe dient dazu, das Unausweichliche zu betonen und einen Sinn von Schicksal und Verzweiflung zu vermitteln. Zudem verwebt Meißner in seinem Gedicht Themen wie Liebe, Religion, Verrat und Tod.
Alles in allem zeichnet Alfred Meißner in „Die Jüdin“ ein berührendes und tragisches Bild vom Schicksal einer Frau, die aufgrund von Liebe und Verrat ihren Glauben aufgibt und letztendlich einen tragischen Weg wählt.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Die Jüdin“ ist Alfred Meißner. Der Autor Alfred Meißner wurde 1822 in Teplitz geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1838 bis 1885 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das 306 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 54 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Die Gedichte „Heimweh“ und „Heimliches Glück“ sind weitere Werke des Autors Alfred Meißner. Zum Autor des Gedichtes „Die Jüdin“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.
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