Geiger, Arno - Unter der Drachenwand (Ambivalente Figuren)

Schlagwörter:
Arno Geiger, Personenbeschreibung, Charakter, weder gut noch böse, Veit, Margot, Onkel Johann, Trude Dohm, Quartiersfrau, Referat, Hausaufgabe, Geiger, Arno - Unter der Drachenwand (Ambivalente Figuren)
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Referat

Arno Geiger – „Unter der Drachenwand“ (Ambivalente Figuren)

Im Roman „Unter der Drachenwand“ treten Figuren in verschiedensten Lebenssituationen und politischen Positionen auf. Diese entsprechen der damaligen Gesellschaft und weisen alle ambivalente Charakterzüge auf, sodass sich der Leser im Laufe des Romans die Frage stellen muss, ob man die einzelnen Personen zum Beispiel nur aufgrund ihrer politischen Orientierung verurteilen sollte und wie sich überhaupt das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern des Zweiten Weltkriegs gestaltet.

Das beste Beispiel für diese Frage ist der Protagonist der Geschichte, der Wehrmachtssoldat Veit Kolbe aus dessen Perspektive ein Großteil der Handlung erzählt wird. Nachdem er auf dem Russlandfeldzug verwundet wurde, zieht er in das idyllische Dorf Mondsee, um dort seinen Traumata zu entkommen. Bei dieser Hintergrundgeschichte ist der erste Kritikpunkt offensichtlich: Veit ist als Soldat direkt in Kriegshandlungen involviert gewesen und hat zum Tod anderer Soldaten und Zivilisten beigetragen. Er selbst beschreibt, dass er mit einem Schädel Fußball gespielt und somit keinen Respekt vor den Toten gezeigt habe. Gleichzeitig ist er schwer getroffen vom Tod seiner Schwester Hilde vor sieben Jahren, man kann also eine Doppelmoral im Umgang mit anderen erkennen: Auch, wenn er sich sehr um ihm nahestehende Personen sorgt, sind ihm die Schicksale unbekannter oder unsympathischer Menschen gleichgültig. Dies sieht man auch daran, dass er sich im Verlauf des Krieges immer wieder seiner Rückkehr an die Front verweigert, um bei Margot in Frieden leben zu können. Dass er damit andere Soldaten an seiner Stelle sterben lässt, scheint ihn nicht zu interessieren.

Auch seine Beziehung mit Margot lässt sich auf zwei Arten interpretieren: Einerseits helfen sich die beiden gegenseitig durch ihre Einsamkeit, lassen einander den Krieg vergessen und Veit unterstützt Margot dabei, ihr Kind aufzuziehen. Andererseits handelt es sich immer noch um eine Affäre mit einer verheirateten Frau, deren Mann an der Front ist und nichts von Veit weiß. Zwar lässt sich aus dem Verhalten ihres Ehemanns Ludwig, der eher wenig Interesse zu zeigen scheint, folgern, dass er selbst kein großes Interesse an der Beziehung hat und, dass es sich eher um eine Zweckehe der beiden handelte, um Ludwig Vorteile in der Armee zu bieten; trotzdem könnte man auch argumentieren, dass Ludwig sich vielleicht an der Idee eines gemeinsamen Lebens nach dem Krieg festhält und diese Hoffnung von Veit hinter seinem Rücken zerstört wird.

Eine letzte zweiseitige Beziehung Veits ist die zu seinem Onkel Johann. Dieser hat seinem Neffen geholfen, sich ein Leben in Mondsee aufzubauen und ihm somit auf die Türen zu seiner Besserung und zur Liebe mit Margot geöffnet. Trotzdem wird er von Veit erschossen, wobei dieser (fast) keine Reue zu empfinden scheint. Trotzdem begeht Veit auch diese Tat nicht aus kaltem Hass oder weil sein Onkel ihm selbst im Weg steht, sondern um seinen Freund, den Brasilianer zu schützen, den sein Onkel ursprünglich töten wollte.

Man kann Veit somit als einen Menschen charakterisieren, der zwar auf den ersten Blick meist im eigenen Interesse handelt, dies aber auch tut, um Menschen, die ihm nahe stehen, zu schützen und sich eine heile(re) Welt abseits des Krieges aufzubauen, was vermutlich für die meisten Leser mindestens nachvollziehbar ist.

Eine weitere Romanfigur, die die verschiedenen Abstufungen zwischen gut und böse verdeutlicht, ist die Quartiersfrau, Veits und Margots Vermieterin Trude Dohm. Da sie die meiste Zeit als überzeugte Nationalsozialistin auftritt und häufig Streit mit Veit hat, wirkt sie auf die meisten Leser vermutlich zunächst wie eine Verkörperung des Schlechten, eine Antagonistin im Kleinen.

Bei dieser Darstellung muss man sich jedoch als Erstes bewusst machen, dass wir die Quartiersfrau als Leser nur aus Veits Perspektive wahrnehmen. Da dieser die meiste Zeit eine stark ablehnende Haltung ihr gegenüber einnimmt, sind auch seine Aufzeichnungen entsprechend gefärbt. Vielleicht nimmt er ihre positiven Eigenschaften gar nicht wahr, oder schreibt sie zumindest nicht auf.

Für die Quartiersfrau spricht beispielsweise, dass sie in erster Linie wegen ihres Mannes den Nationalsozialismus unterstützt. Ob sie unter der Oberfläche wirklich so überzeugt ist, wird für den Leser nicht deutlich. Insbesondere zum Ende der Handlung, als sich bereits abzeichnet, dass der Krieg nicht gewonnen werden kann, wirkt es so, als halte die Quartiersfrau in erster Linie deshalb an ihrer Ideologie fest, weil sie es nicht ertragen kann, ihre Glaubenssätze infrage zu stellen. Diese Situation dürfte für die meisten Leser nachvollziehbar sein. Außerdem kann man sich vorstellen, dass sie der Streit mit ihrem Bruder, dem Brasilianer, vielleicht mehr belastet, als sie nach außen zeigt und es sich somit generell um eine Person handelt, die ihre inneren Konflikte über Gehässigkeit und Wut an ihrem Umfeld auslässt, da sie sich nicht anders zu helfen weiß.

Als letzte sehr ambivalente Figur kann man Veits Onkel Johann in den Blick nehmen. Auch er zeichnet sich auf den ersten Blick durch seine Überzeugung vom NS-Regime aus, von welchem er selbst in seiner Rolle als Polizist natürlich profitiert. Im Verlauf des Romans wird jedoch erkennbar, dass dieser augenscheinliche Profit der einzige Grund für seine positive Haltung ist und er die nationalsozialistische Ideologie selbst eher ablehnt. Auch äußert er sich kritisch über den Krieg und die Ressourcenknappheit, seine Zigaretten sind ihm wichtiger als der Kriegserfolg. Für Onkel Johann ist in erster Linie wichtig, dass er selbst ein entspanntes Leben führen kann, deshalb lässt er auch den Brasilianer lange in Ruhe, bis dieser durch seine Äußerungen und sein Verhalten droht, die Autorität des Onkels infrage zu stellen. Die ablehnende Haltung gegenüber der Beziehung zwischen Margot und Veit lässt sich ebenfalls darüber erklären, dass der Onkel nicht möchte, dass die Affäre seines Neffen auf ihn zurückfällt. Vermutlich hätte er ansonsten nichts dagegen, denn er unterstützt Veit auch im Rahmen seiner Möglichkeiten beim Umzug und Einleben in Mondsee.

Obwohl die Tatsache, dass man durch Arno Geigers Ausarbeitung der Charaktere in „Unter der Drachenwand“ eine Sympathie oder ein Verständnis für Personen aufbaut, die eindeutig Nazis und/oder Kriegsverbrecher sind, kritisiert werden kann, wird dadurch die Vielschichtigkeit des menschlichen Wesens deutlich. Der Leser erkennt, dass niemand aufgrund einer einzelnen Meinung oder Eigenschaft verurteilt und in eine Schublade gesteckt werden kann – weder im positiven, noch im negativen Sinne. Durch die Auseinandersetzung mit den moralischen Konflikten der handelnden Personen wird der Leser eventuell sogar selbst dazu animiert, seinen Mitmenschen mit mehr Verständnis und Rücksicht zu begegnen. So bekommt der eigentlich historisch orientierte Roman auch eine übergeordnete, auf das eigene Leben übertragbare Komponente.

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