Andersch, Alfred - Der Vater eines Mörders (Erörterung)

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Alfred Andersch, Literarische Erörterung Der Vater eines Mörders, Haltung Franz Kiens zum Schulsystem seiner Zeit, Gruppe 47, Referat, Hausaufgabe, Andersch, Alfred - Der Vater eines Mörders (Erörterung)
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Referat

Andersch, Alfred: Der Vater eines Mörders


Literarische Erörterung
Untersuchen Sie die Haltung Franz Kiens, der Hauptfigur in Alfred Anderschs Erzählung "Der Vater eines Mörders", zum Schulsystem seiner Zeit!

"Die nachhaltige literarische Wirkung der Gruppe 47 ist bis heute unbestritten". Dieses Zitat von Carl Amery, einem Münchner Schriftsteller betont den Einfluss jener fluktuierenden Gruppierung von Schriftstellern und Publizisten auch noch auf die heutige Literatur. Ein Vertreter aus dieser Vereinigung ist Alfred Andersch, der zu ihren Gründungsmitgliedern zählt. Alfred Andersch wird am 4. Februar 1914 in München als Sohn eines Kaufmanns geboren. Von 1920 bis 1928 besucht er die Volksschule und das Wittelsbacher Gymnasium. Er absolviert eine Buchhandelslehre, während der er sich aktiv in der politischen Linken betätigt. Weil er aufgrund dessen unter anderem im KZ Dachau gefangen gehalten wird, gibt er seine politischen Aktivitäten auf und übernimmt daraufhin verschiedene Beschäftigungen als Angestellter. Im Zweiten Weltkrieg dient er als Soldat, desertiert aber zu den Amerikanern, die ihn bis 1945 als Kriegsgefangenen festhalten. Nach dem Ende des Kriegs arbeitet Andersch als Redakteur und Herausgeber mehrerer Zeitschriften sowie als Leiter diverser Radiosender. In dieser Zeit stößt er auch auf die Gruppe 47. 1958 siedelt er in die Schweiz über, wo er fortan als freier Schriftsteller tätig ist und am 21. Februar 1980 stirbt.

In seiner stark autobiographisch geprägten Erzählung "Der Vater eines Mörders", die zugleich sein letztes Werk darstellt, beschreibt Andersch eine Griechischstunde, die der Direktor des Wittelsbacher Gymnasiums, der Vater von Heinrich Himmler, hält. Innerhalb dieses Handlungsrahmens tun sich zwei Perspektiven auf: In der persönlichen versucht der Autor wohl, sein eigenes Versagen gegenüber dem autoritären Schulsystem zu verarbeiten. Der implizite sozi-politische Blickwinkel hingegen übt mittels eines Vergleichs mit dem Bildungssystem auch Kritik an der Gesellschaft.

In einem autoritären System, wie es Andersch behandelt, spielen die Verteilung der Macht sowie deren Auswirkungen eine große Rolle. Die oberste Gewalt besitzt der Direktor, der Rex. Sobald er auftritt oder sein Wort erhebt, ordnen sich ihm alle anderen Personen, Lehrer wie Schüler, unter (S. 13). Besonders deutlich wird dies, als der Rex die Klasse mit "meine Untertertia B" (S. 17) oder das Gymnasium mit "meine Schule" (S. 55) betitelt. Indem er auf diese Weise Besitzansprüche für die Klasse bzw. Schule geltend macht, rückt er sich in die Nähe eines absolutistischen Herrschers mit unumschränkter Gewalt. Diese Rolle wird von allen Beteiligten, dem Lehrer und den Schülern, als gegeben hingenommen und akzeptiert. Kien spricht zudem stille Bewunderung für die hohe Machtstellung des Rex aus ("Er ist wirklich ein Rex", S. 17).

Die absolute Macht des Rex wird erweitert durch das Recht von dieser Macht Gebrauch zu machen. Dieses Recht auf Gewaltausübung wird, wie auch der alleinige Besitz der Macht, von den Beteiligten als unabänderlich angesehen und ihm deswegen zugebilligt. Kien vergleicht den Rex hierzu mit einem Jäger auf der Pirsch (S. 36), der nur darauf wartet, seine Macht ausspielen zu können, indem er sein Gewehr benutzt. Die durch das Gewehr treffend umschriebene Machtfülle des Rex verbunden mit dem Wissen, ihr selbst ausgeliefert zu sein, weckt ein Gefühl der Furcht in Kien. So hofft er verzweifelt, dass er von den Auswirkungen derselben verschont bleibt (S. 66). Wüsste Kien, welche konkreten Auswirkungen die Macht des Rex auf ihn hat, hielte sich seine Angst wohl in Grenzen. Gerade diese Machtfülle ist es aber, die es dem Rex erlaubt, willkürliche und teilweise stark pauschalisierte Meinungen zu entwickeln, da ihm kein Widerspruch droht. Kien wirft dem Rex zum Beispiel Widersprüchlichkeit vor, als dieser einen seiner Mitschüler, Greiff, der Schule verweist, obwohl dieser doch kurz zuvor als "ausgezeichneter Grieche" eingestuft worden ist (S. 56). Solch gegensätzliche Verhaltensweisen des Rex, die dieser stets zu seinem eigenen Vorteil auslegt, werden begleitet von Erklärungen wie "Karl May ist Gift" oder "Glaubt bloß nicht alles, was da [in der Grammatik] drin steht", die eine pauschalisierende und undifferenzierte Einstellung des Direktors an den Tag legen. Kien bringt dieser Art der Meinungsbildung Unverständnis und Ablehnung entgegen (S. 65).

Aus der sehr ungleichen Machtverteilung resultieren zwei verschiedene Konkurrenzverhältnisse. Einerseits stellen sich die Schüler den Lehrern entgegen, andererseits konkurriert der Lehrer wiederum mit dem Direktor. Dass die Schüler und Lehrer einander feindlich gesinnt sind, ist für Kien selbstverständlich. Das wird deutlich, als sich Greiff mit dem Lehrer, Kandlbinder, anlegt. Kien findet diesen Konflikt durchaus natürlich: Er behält im Auge, wer jeweils "die Nase vorn" hat (S. 38). Selbst Schüler, befindet sich Kien verständlicherweise auf Seite der Schüler ("Kandlbinder ist ein Depp", S. 38). Trotzdem bewahrt er stets ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das ihn erkennen lässt, wer von beiden Seiten im Recht ist ("es ist ja hundsgemein von ihm [Greiff]", S. 39). Auch der Konflikt Lehrer – Direktor, namentlich Kandlbinder – Rex, ist für Kien eine Normalität. Er findet es sogar anormal, wenn der Konflikt ausbleibt: Als der Rex Kandlbinder über die Aussprache im Griechischen zurechtweist, erwartet Kien einen Widerspruch des Lehrers. Die Entgegnung fällt jedoch so schwach aus, dass sie der Aussage des Direktors nichts entgegenbringt, womit für Kien der Verlierer bereits feststeht (S. 29). All diese Konflikte und Machtverhältnisse zeugen davon, dass das Schulsystem ein ausgeprägtes hierarchisches Instanzenmodell besitzt: In Kiens Augen stellen die Schüler die unterste Instanz dar. Es folgt der Lehrer, an oberster Stelle schließlich der Direktor. Am deutlichsten wird diese Hierarchie am Beispiel des Lehrers, der den Direktor zufrieden stellen will: Kandlbinder ruft, als klar ist, dass der Rex eine Klasseninspektion vornimmt, einen Musterschüler nach dem anderen auf. Kien zweifelt die Hierarchien in der Schule nicht an: Für ihn ist von Anfang an klar, dass Kandlbinder beim Rex "Eindruck schinden" muss ("Der Kandlbinder spinnt ja ... Oder ihn später als Glanznummer vorzuführen.", S. 24).

Die bedeutendsten Wert im damaligen Bildungssystem besitzt jedoch der Status: Es ist nicht wichtig, welche Werte man wirklich verkörpert, Hauptsache, man macht nach außen hin eine entsprechende Erscheinung. Das einfachste Mittel, dieser Forderung nachzukommen, ist die Selbsterhöhung bzw. die Erniedrigung anderer. Hierfür liefert der Lehrer Kandlbinder das beste Beispiel. Indem er stets demonstriert, wie viel er weiß, wirkt er rechthaberisch und selbstverherrlichend. Kien findet diese ständige Überhöhung der eigenen Rolle überflüssig und lächerlich. Das zeigt er deutlich, als er den Lehrer – in Gedanken – auf den Arm nimmt (S. 28). Der Rex hingegen bevorzugt es, andere abzuwerten und sich somit herauszustellen. Meistens bedient er sich hierzu der Bloßstellung, von der sowohl der Lehrer ("Kandlbinder! [...] Tz, tz, tz!", S. 46) als auch die Schüler ("Greif von Sowieso. [...] hat es nichteinmal dazu gereicht.", S. 50) direkt betroffen sind. Ein solches Verhalten stößt bei Kien auf vehemente Ablehnung, zumal er von der Bloßstellung vor der gesamten Klasse selbst betroffen ist (S. 83ff.). Somit erkennt er, dass das System eigentlich unmenschlich ist.

Die Bedeutung des Status beschränkt sich aber nicht nur auf die oberflächliche Selbsterhöhung der beiden Lehrer. Insbesondere im Zusammenhang mit der Konrad-Greiff-Episode (S. 37ff.) spielt das Ehrgefühl von Greiff bzw. des Rex eine weitaus größere Rolle. Alles beginnt mit der Meinung Greiffs, durch seinen Adel etwas Besseres darzustellen. Sowohl Greiff als auch der Rex steigern sich daraufhin immer mehr in die folgende Auseinandersetzung hinein. Es geht schon bald nicht mehr um den äußerlichen Status, sondern um die Ehre und das Ansehen vor der Klasse und damit um die Frage, wer von beiden tatsächlich, nicht nur vom äußerlichen Schein her, der Bessere ist. Diese Haltung befindet Kien für überzogen, und erkennt scharfsinnig die Absurdität eines "Wettstreits um die Ehre". Er bemerkt außerdem, dass bei solch einer Auseinandersetzung jede Partei "Federn lassen muss". Deutlich wird dies vor allem, als der Rex Greiff zwar "bis aufs Blut" reizt, sich dadurch aber selbst herablässt und somit auch "Minuspunkte" sammelt (S. 47).

Durch den oben dargestellten Unterschied zwischen inneren und äußeren Werten und durch die Tatsache, dass fast alle Menschen nur die äußeren Werte sehen, entsteht ein weiteres Verhaltensmuster, die Verstellung, die vor allem beim Rex zum Tragen kommt. Kien ist jedoch eine Person, die Verstellungen durchschaut und somit den Grundcharakter einer Person erkennen kann. Ihm zufolge ist der Rex in Wirklichkeit der "böse Schuldirektor". Erträglich wird er nur dadurch, dass er über diese Grundzüge verschiedene Verhaltensweisen legt, die – je nach Absicht des Rex – mal liebenswürdig, freundlich, erstaunt oder beherrscht sind (z.B. S. 76). Eine Verstellung der eigenen Persönlichkeit ist nach Kiens Meinung Heuchelei gleichzusetzen, die irgendetwas verbergen soll. Natürlich wird ein solches Streben durch seine Fähigkeit, andere Leute zu durchschauen, ad absurdum geführt.

Nach der Darstellung der Verhältnisse der Personen im Bildungssystem sollen nun die Ideen beleuchtet werden, die hinter dem Schulsystem an sich stehen. Als Grundlage allen Handelns und Denkens dienen meistens bestimmte Ideale und Werte. So auch im damaligen Schulsystem. Der Rex als Vertreter der Lehrerschaft weist die Schüler immer wieder zu mehr Disziplin an (S. 45), zumal er selbst eine unvergleichliche Selbstbeherrschung an den Tag legt (S. 55). Kien drückt wiederholt seine Bewunderung für eine derartige Selbstdisziplin aus, weil es für ihn – im Gegensatz zum Rex – nicht selbstverständlich ist, stets die Kontrolle über sich zu bewahren. Eine hierzu relativ einfach zu realisierende von den Schülern erwartete Tugend ist der Respekt den Lehrern gegenüber. Respekt ist die Voraussetzung für alles menschliche Zusammenleben. Allerdings spricht Kien auch Bewunderung dafür aus, dass Achtung den Lehrern gegenüber zumindest teilweise gebrochen wird ("Pfundig, wie der Konrad das fertiggekriegt hat!", S. 52). Immer wieder kommt in Anderschs Erzählung außerdem zum Ausdruck, dass die Lehrer von ihren Schülern Ehrgeiz zum Lernen sowie Fleiß erwarten. Kien erkennt, dass diese beiden Tugenden Voraussetzung für erfolgreiches Lernen sind, steht aber dieser Forderung der Lehrer zwiespältig gegenüber, denn er weiß auch, dass er diese Erwartungen nicht erfüllen kann, weshalb er sie im Endeffekt mehr oder minder ignoriert.

Das damalige Schulsystem fordert von den mit ihm verbundenen Personen bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. So erfahren die Schüler schnell, dass sie sich den Lehrern vorbehaltlos unterzuordnen haben und ganz bestimmte Verhaltensregeln beachten müssen. Die Folge ist, dass Einheitsschüler entstehen, die durch ihr gleichartiges Verhalten den Eindruck erwecken, auch dasselbe zu denken. Somit wird die Individualität jedes einzelnen Schülers, soweit es im Klassenzimmer sichtbar wird, vollkommen untergraben. Passiert es doch einmal, dass es ein Schüler wagt, seine eigene, persönliche Meinung darzustellen (Greiff-Episode) oder sich ein Schüler nicht dem von der Lehrerschaft so unnachgiebig geforderten Lernwillen beugt (Franz-Kien-Episode, S. 72ff.), passt er nicht mehr in das System des Maßschülers und bekommt die schärfsten Konsequenzen zu spüren. Da Kien die Kompromisslosigkeit dieser Erziehungsmethode durch seine Entlassung von der Schule am eigenen Leib erfährt, ist es nachvollziehbar, dass sie bei ihm keine große Zustimmung findet.

Im Gegensatz zu den Schülern, deren Eigenarten durch den strikten Verhaltenskodex nivelliert werden, hat der Rex als Vertreter der Obrigkeit in Schulen freien Spielraum in der Art und Weise, sich zu verhalten. Dadurch können sie ihren Charakter, ihre Individualität entfalten. Besonders deutlich wird dies an der Figur des Rex: Da er, wie oben festgestellt, von allen anderen als "Herrscher" anerkannt wird, kann er es sich erlauben, seine persönlichen Meinungen, dazu gehören auch Meinungen über andere Personen, öffentlich darzustellen. Und es sind just diese Anschauungen, die den Charakter des Direktors bilden. Von den Schülern hingegen erwartet er die Erfüllung der Werte des Bildungssystems ohne Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse und Einstellungen des einzelnen Schülers (z.B. S. 68). Die Macht der an der Spitze stehenden wird also ausgedehnt, den "Untergebenen" hingegen ihre Individualität geraubt. Dies sind auch die zwei Gründe, weshalb Kien jenen Verhaltenskodex verurteilt. Eine weitere kennzeichnende Eigenschaft des Schulsystems zu Kiens Zeit ist die Unpersönlichkeit der Lehrer: Der Lehrer wird nie mit seinem wirklichen Nachnamen angeredet, er hat nur einen Titel. So wird der Direktor Himmler grundsätzlich mit "Herr Oberstudiendirektor", der Lehrer Kandlbinder mit "Herr Professor" angesprochen; im Gespräch der Schüler untereinander wird der Schuldirektor nur mit "Rex" bezeichnet. Diese "Sitte der unpersönlichen Lehrer" ist bei den Schülern also gemeinhin akzeptiert. Selbst Kien stellt sie nicht in Frage, er erkennt jedoch, dass dieser Brauch früher nicht existierte (S. 59).

Schon die Feststellung Kiens, dass "es das auf der Schule einfach nicht gibt, dass ein Schüler seinem Lehrer [...] widerspricht" (S. 52), zeugt von der Unabänderlichkeit des Schulsystems. Noch deutlicher wird diese Tatsache, als Greiff und Kien, zwei Schüler, die sich nicht in das Bildungssystem einfügen wollen, mit der schlimmsten Strafe bedacht werden, die einem Schüler widerfahren kann – der Relegation. Das System ist also so inflexibel, dass es jeglichem Widerspruch aus dem Wege geht, anstatt sich anzupassen. Trotz seiner unliebsamen Bekanntschaft mit der Rücksichtslosigkeit des Schulsystems nimmt Kien dessen Irreversibilität hin, wohl weil er der Ansicht ist, dass diese Größe im Schulsystem unveränderlich ist. Im Folgenden geht es um den Umgang von Schülern und Lehrern mit den Leitgedanken des Bildungswesens. Die Schüler in Anderschs Erzählung erwecken im Allgemeinen nach außen hin den Eindruck, sich streng an den Prinzipien und Werten des Bildungssystems zu orientieren. In Wirklichkeit sieht die Klasse im Unterricht aber eine Art Theater, eine Komödie mit dem Lehrer als Hauptdarsteller und unter Umständen einem zusätzlichen Schüler. So "freut" sich die Klasse im Vorfeld auf den Wortwechsel zwischen Kandlbinder und Greiff, um daraufhin "mitleidlos" die Rolle des beobachtenden Zuschauers zu übernehmen (S. 41). Diese von der Klasse übernommene Funktion wird von Kien wieder einmal durchschaut, jedoch weder verurteilt noch gutgeheißen, woraus sich schließen lässt, dass Kien diese Rolle für selbstverständlich befindet.

Die Unumstößlichkeit des Schulsystems zwingt Lehrer und Schüler ein bestimmtes Verhalten auf und führt damit zu einer Prägung. Die Lehrer übernehmen grundsätzlich die Rolle der "ewigen Wettstreiter" um den höchsten Status. Wie schon vorher erwähnt, befindet Kien den Status an sich und damit auch den Kampf um diesen als überflüssig. Die Schüler hingegen werden von der Schule, abgesehen von der Prägung im Sinne des Bildungssystems, also Lernwille, Ehrgeiz und Gehorsam, auch in politischer Richtung beeinflusst. Die Beeinflussung übernimmt in der Geschichte der Rex, der den Schülern klarmacht, wie wichtig das deutsche Reich ist und welche militärischen Verpflichtungen jeder gegenüber dem Vaterland hat (S. 45f.). Hier kann man wohl sagen, dass die Schule als verlängerter Arm des Staates fungiert. Kien kann den Ansichten des Rex nicht viel abgewinnen, weil er zum einem einfach Angst hat vor dem unerbittlichen Ton im Militär. Zum anderen ist er der Anschauung, dass er nur sich selbst gegenüber verpflichtet ist, dass keine andere Person oder Einrichtung wie der Staat über ihn bestimmen darf.

Da die Schule aber auch nichts anderes tut, als die Schüler nach ihren Maßen zu erziehen, also genau entgegengesetzt zu Kiens Überzeugung arbeitet, hat Kien den Eindruck, dass die "Schule am Leben vorbei" geht. Es fängt schon an damit, dass die Lehrer strikt an ihren Zielen festhalten, anstatt auf die individuellen Bedürfnisse und Probleme der Schüler einzugehen: Der Rex hämmert der Klasse wiederholt ein, dass der Lernwille allein den Weg zum Erfolg ebne. Kien erkennt jedoch, dass diese Methode bei ihm nicht fruchtet: Er findet die Schule "öd, öd, öd" (S. 94f.). Warum dies so ist, weiß er selbst nicht, er weiß jedoch, dass die Lehrer weder Interesse noch Verständnis für seine Haltung zeigen. Obwohl Kien hier die Lehrer kritisiert, richtet sich seine Abneigung in dieser Frage eher gegen die Schule selbst und das System, das solche verständnislosen Lehrer hervorbringt.

Abgesehen von der Erbarmungslosigkeit des Bildungssystems ficht Kien auch die Lehrinhalte an, die an der Schule unterrichtet werden: Als der Rex versucht, Kien die Akzentregeln des Griechischen näher zu bringen, benutzt er eine für diesen sinnlos verkomplizierte Erklärungsmethode, anstatt – wie Kien meint – ihm einfache, für Schüler verständliche Regeln beizubringen. Diese komplizierten Prinzipien stellten für ihn nur unnützen Ballast dar und seien es daher nicht wert, unterrichtet zu werden (S. 107f.). Was Kien sich in der Schule wünscht, wäre mehr Praxisorientierung, die man im "wirklichen" Leben auch tatsächlich umsetzen kann. Als Beispiel führt er hier seine Geschicklichkeit beim Spielen im Freien an, die überhaupt nicht verglichen werden kann mit seinen mangelhaften Leistungen im Schulsport (S. 95). Seine Abneigung gegen den in der Schule vermittelten Stoff könnte den Eindruck erwecken, er lehne die Schule kategorisch ab. Dem ist aber nicht so: Kien hat trotz allem ein klares, differenziertes Bild von der Schule seiner Zeit: Althergebrachte Vorschriften wie die Unabänderlichkeit des Schulsystems oder die feststehenden Titel der Lehrer werden akzeptiert, Machtverhältnisse und Machtstreben verurteilt. Seine Meinung, das in der Schule vermittelte Wissen sei vielfach sinnlos, steht dem gegenüber nur am Rande.

Projiziert man das "Problem Schule" auf die heutige Zeit, so stellt man fest, dass sich zwar die Werte und Ziele der Schule in den letzten 70 Jahren nicht verändert haben, wohl sich aber die Lehrmethoden durch die Einbindung von mehr Demokratie gemäßigt haben und die Schule insgesamt flexibler geworden ist. So versucht der Lehrer von heute, auch auf den Schüler einzugehen und gewinnt so ein individuelles Bild von jedem Schüler. Vor allem das Machtstreben der Lehrer ist zurückgegangen, teilweise können sich ja die Schüler den Lehrern gegenüber schon fast kollegial verhalten. Die Umsetzung des Anspruchs der Schule, "Wissen für das Leben" zu vermitteln, muss jedoch nach wie vor in Frage gestellt werden. Schon Schüler erkennen, dass sie mit dem ihnen vorgesetzten Stoff oft nichts anfangen können, weil ihnen nicht klar ist, welche Anwendungsbereiche beispielsweise eine Gedichtinterpretation oder Kurvendiskussion im späteren Leben hat. Auch die Industrie beklagt in zunehmendem Maße, dass Abiturienten und Abiturientinnen wie auch junge Akademiker und Akademikerinnen mangelnde Qualifikationen für den erwünschten Beruf mitbringen. Hier müsste ein Umdenken stattfinden, das den Schüler viel mehr als heute auf das spätere Berufsleben vorbereitet.


Quellennachweis:

  • http://www.germany-live.de/gl/Artikel/Kultur/1997-10/875871232.html, 28.04.98
  • Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Mannheim, 1978, Band 11: Gros – He, S. 121
  • Rhys Wilhelm, "Alfred Andersch" in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon der deutschen Literatur der Gegenwart, München, 1978ff.
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