Noemi von Yvan Goll

1
 
Ich trage so schwer an der Schicksalserbschaft
Meiner Bibelmütter,
Meiner Prophetinnen,
Meiner Königinnen,
 
Es rauschen so mächtig aus dunklen Jahrhunderten
Die Gottesjahre,
Die Tempeljahre,
Die Ghettojahre.
 
10 
Es singen so wirr in meiner geborstenen Seele
11 
Die Jahrzeitenfeste,
12 
Die Himmelsfeste,
13 
Die Totenfeste.
 
14 
Es schreien so tief in meinem tollen Blut
15 
Die Patriarchen,
16 
Die Helden,
17 
Die Söhne!
18 
Hör, Israel, Adonoi war dein Gott, Adonoi war einzig!
 
19 
2
 
20 
Ich bin die Tochter des Frühlingsvolks!
21 
Andacht und Opfer vergeudend,
22 
Riss ich die Erde in meinen Wirbel.
23 
Mein Gebet war das menschliche Echo
24 
Der Asphodelengesänge
25 
Und Ölbaumsymphonien.
26 
Mein Himmel war wolkig erbaut
27 
Über den weiß erblühten Gebirgen,
28 
Und die goldenen Sternenzeichen
29 
Tief in dunklen Seen nachgebildet.
30 
Jeder Mann trug stolz sein Zedernhaupt.
31 
Jeder Jüngling eine wandelnde Akazie,
32 
Israel so fromm wie ein Frühlingshügel!
33 
Salben und öle dufteten um seine Glieder,
34 
Und in seinen großen Augen
35 
Lächelte Gott.
36 
Opfer war die Sprache der Patriarchen,
37 
Und die Engel die Antwort des Himmels.
38 
Jede Mädchenklage wie ein Taubenpaar,
39 
Jede Frauenbitte blondes Lämmchen,
40 
Und des Kriegers unwirsch Kampfgelübde
41 
Rauchte dumpf im Blute der Stiere auf.
42 
Und die Tänze im süßen Weinberg,
43 
Zimbeljubelnd kränzten sie das Jahr.
 
44 
3
 
45 
Ich bin die Tochter des Talmudvolks!
46 
Tempel, in dem die Kupferleuchter
47 
Wie Bäume ihre Siebenzweige entfalteten,
48 
Wo statt der Märchensterne
49 
Ewige Ampeln die mystische Nacht
50 
Beunruhigten.
51 
In goldenen Bechern hielt man Gott gefangen.
52 
Brokat und Purpur ziemte seinen Priestern.
53 
In Porphyrarkaden versargt
54 
Lag der sterbende Himmel.
55 
Als Israel von seinen Hügeln gestiegen,
56 
Zerschlug es sich an Felsenschluchten
57 
Sein grauendes Lockenhaupt,
58 
Zerrieb an Fliesen seine verflachten Knie.
59 
Die Sonne hing verkohlt und schwarz in der Straße,
60 
Ein Lämpchen nur bestrahlte das Tempelvolk.
61 
Israel, verwitterndes Gebirg,
62 
Alternder Gletscher,
63 
In Schrift und Zeichnung und Kabbala
64 
Erörtertest du kalt
65 
Den Prozess des Himmels.
66 
Aber versteint war deine Seele,
67 
Vereist dein Herz!
 
68 
4
 
69 
Ich bin die Tochter des Ghettovolks!
70 
Der schnarrenden und schnorrenden Rabbis,
71 
Der Waisenkinder und Totengräber.
72 
In dumpfen Kellern, triefenden Gewölben,
73 
In spanischen Türmen, rumänischen Höhlen
74 
Hab ich geschmachtet.
75 
Wo ist Elohim,
76 
ihr Kodoschim?
77 
Oi, oi, oi,
78 
Und wo ist Adonoi?
79 
Am morschen Altar schüttelt ihr die Palmen,
80 
Mit faulen Zähnen kräht ihr Klagepsalmen.
81 
Mit Litaneien und Schreien
82 
Wollt ihr Gott befreien,
83 
In klebrigen Kaftanen
84 
Imitiert ihr die Geste der Ahnen,
85 
Beim blutigen Pogrom, in der Kerkerkette,
86 
Im Mordviertel der Zyklopenstädte
87 
Nennt ihr euch Erben
88 
Und wollt nicht sterben!
89 
O Volk der duftenden Schwestern und denkenden Brüder,
90 
Auferstehe, mein Volk, und lasse die Lieder
91 
Und lasse den Gott der Schriften und Klagen
92 
Begraben!
93 
Hör, Israel!
 
94 
5
 
95 
Höre!
96 
Du hast einen Geist,
97 
Du hast einen Geist, mit Blut und Gott gespeist,
98 
Du hast einen Geist, in allen Feuern der Schöpfung rein geschweißt,
99 
Du hast einen Geist, auf allen Meeren und Landstraßen weitgereist,
100 
Du hast einen Geist, von allen Philosophien, Poesien, Geometrien, Industrien der Menschheit umkreist.
101 
Du hast den einen, einzigen, ewigen Geist.
 
102 
Hör, Israel!
 
103 
Dein Geist erleuchte die fünf Kontinente,
104 
Dein Geist bemeistre die vier Elemente,
105 
Dein Geist erobre die drei Reiche,
106 
Dein Geist befreie die zwei Menschen,
107 
Dein einer Geist!
 
108 
Hör, Israel!
 
109 
Mit deinem Geiste wirst du alle Tode der Welt verlebendigen:
110 
Dein Geist ist die Pforte zum Eden,
111 
Dein Geist ist die Flucht nach Nirwana,
112 
Dein Geist ist die Barke gen Elysium!
113 
Dein Geist! Deine Erkenntnis! Dein Alleswissen!
 
114 
Hör, Israel!
 
115 
Dein Geist ist die glänzende Neugeburt,
116 
Dein Geist ist der alte Gott,
117 
Zum Sohne der Menschheit verjüngt.
118 
Dein Geist ist das Leben!
119 
Hör, Israel, dein Geist ist dein Gott, dein Geist ist einzig!
 
120 
6
 
121 
Zu Neumond will ich auferstehen!
122 
Die schwarzblauen Flechten salben mit dem Öl der Nuss.
123 
Und den Geliebten empfangen mit sternklarem Kuss.
 
124 
Zu Neumond will ich wandern gehen!
125 
Und über den Himmel das Glück meiner Liebe verkünden,
126 
Und auf der Erde den Sieg meiner Liebe gründen.
 
127 
Zu Neumond will ich tanzen gehen.
128 
Die Menschen aus ihrem Traume wecken,
129 
Über den Städten das neue Licht anstecken.
 
130 
Zu Neumond will ich auferstehen!
131 
Den hohen Geist wie Phönix aus der Asche heben.
132 
Dem alten Glauben den Namen Erkenntnis geben.

Details zum Gedicht „Noemi“

Autor
Yvan Goll
Anzahl Strophen
24
Anzahl Verse
132
Anzahl Wörter
649
Entstehungsjahr
1891 - 1950
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Noemi“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Yvan Goll. Goll wurde im Jahr 1891 in Saint-Dié (Frankreich) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1907 bis 1950 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus, Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit, Exilliteratur oder Nachkriegsliteratur zuordnen. Bei dem Schriftsteller Goll handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das 649 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 132 Versen mit insgesamt 24 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Yvan Goll sind „Schnee-Masken“, „Schöpfung“ und „Stunden“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Noemi“ keine weiteren Gedichte vor.

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