Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst von Barthold Heinrich Brockes

1	In einem angenehmen Herbst, bey ganz entwölktem heiterm Wetter,
2	Indem ich im verdünnten Schatten, bald blätterloser Bäume, geh',
3	Und des so schön gefärbten Laubes annoch vorhandnen Rest beseh';
4	Befällt mich schnell ein sanfter Regen, von selbst herabgesunkner Blätter.
5	Ein reges Schweben füllt die Luft. Es zirkelt, schwärmt' und drehte sich
6	Ihr bunt, sanft abwärts sinkend Heer; doch selten im geraden Strich.
7	Es schien die Luft, sich zu bemühn, den Schmuck, der sie bisher gezieret,
8	So lang es möglich, zu behalten, und hindert' ihren schnellen Fall.
9	Hiedurch ward ihre leichte Last, im weiten Luftkreis überall,
10	In kleinen Zirkelchen bewegt, in sanften Wirbeln umgeführet,
11	Bevor ein jedes seinen Zweck, und seiner Mutter Schooß, berühret;
12	Um sie, bevor sie aufgelöst, und sich dem Sichtlichen entrücken,
13	Mit Decken, die weit schöner noch, als persianische, zu schmücken.
14	Ich hatte diesem sanften Sinken, der Blätter lieblichem Gewühl,
15	Und dem dadurch, in heitrer Luft, erregten angenehmen Spiel,
16	Der bunten Tropfen schwebendem, im lindem Fall formiertem, Drehn,
17	Mit offnem Aug', und ernstem Denken, nun eine Zeitlang zugesehn;
18	Als ihr von dem geliebten Baum freywilligs Scheiden {da durch Wind,
19	Durch Regen, durch den scharfen Nord, sie nicht herabgestreifet sind;
20	Nein, willig ihren Sitz verlassen, in ihren ungezwungnen Fällen}
21	Nach ernstem Denken, mich bewog, sie mir zum Bilde vorzustellen,
22	Von einem wohlgeführten Alter, und sanftem Sterben; Die hingegen,
23	Die, durch der Stürme strengen Hauch, durch scharfen Frost, durch schwehren Regen
24	Von ihren Zweigen abgestreift und abgerissen, kommen mir,
25	Wie Menschen, die durch Krieg und Brand und Stahl gewaltsam fallen, für.
26	Wie glücklich, dacht' ich, sind die Menschen, die den freywillgen Blättern gleichen,
27	Und, wenn sie ihres Lebens Ziel, in sanfter Ruh' und Fried', erreichen;
28	Der Ordnung der Natur zufolge, gelassen scheiden, und erbleichen!

Details zum Gedicht „Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst“

Gedicht-Analyse

Barthold Heinrich Brockes ist der Autor des Gedichtes „Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst“. Geboren wurde Brockes im Jahr 1680 in Hamburg. In der Zeit von 1696 bis 1747 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Barock, Aufklärung oder Empfindsamkeit kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 28 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 283 Worte. Der Dichter Barthold Heinrich Brockes ist auch der Autor für Gedichte wie „Die Welt ist allezeit schön“, „Frühlings-Seufzer“ und „Kirschblüte bei der Nacht“. Zum Autor des Gedichtes „Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.

Weitere Gedichte des Autors Barthold Heinrich Brockes (Infos zum Autor)

• Die Welt ist allezeit schön
• Frühlings-Seufzer
• Kirschblüte bei der Nacht