Wolfenstein, Alfred - Städter (Analyse)

Schlagwörter:
Alfred Wolfenstein, Analyse, Gedichtinterpretation der zweiten Fassung, Referat, Hausaufgabe, Wolfenstein, Alfred - Städter (Analyse)
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Referat

„Städter“ von Alfred Wolfenstein

Städter
von Alfred Wolfenstein

Nah wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.
 
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
Und Begierde ineinanderragt.
 
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
10 
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
11 
Flüstern dringt hinüber wie Gegröle
 
12 
Und wie stumm in abgeschloßner Höhle
13 
Unberührt und ungeschaut
14 
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.

(„Städter“ von Alfred Wolfenstein ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (24 KB) zur Unterstützung an.)

Das Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein wurde im Jahr 1914 erstmals veröffentlicht. Es beschreibt die persönliche Fremde zwischen nah zusammenlebenden Menschen einer Stadt. Die hier analysierte zweite Fassung ist im Jahr 1920 entstanden und enthält nur leichte Änderungen zum Originaltext.

Meinem ersten Leseverständnis entsprechend versucht dieses Gedicht die Distanz zwischen den Bürgern trotz engstem Raum zu kritisieren.

Das mir vorliegende Gedicht (Zweite Fassung, „Städter“) besteht aus vier Strophen, die in eine Sonettform gesetzt wurden. Die ersten beiden Strophen bilden Quartette, die durch einen umarmenden Reim geprägt sind. Die dritte und vierte Strophe, welche ein Terzett bilden, haben hingegen kein regelmäßiges Reimschema. Zudem hat man durchgängig einen fünfhebigen Trochäus der nur in Vers 13 vierhebig ist.

In den Quartetten wird inhaltlich das Thema Stadt und die Geschehnisse vor Ort behandelt, wohingegen in den Terzetten erstmals das Thema Mensch in der Wohnung mit einbezogen wird.

Die Überschrift „Städter“ beschreibt dem Leser schon hinreichend das Thema des Gedichtes. Es geht um die Stadt und deren Bewohner.

Die erste Strophe handelt von dem Aussehen der Stadt und dem durchgängig kritisierten Thema „Nähe“. In dem Vergleich „Löcher eines Siebes“ (vgl. V. 1) der Fenster wird verdeutlicht, dass man die Informationen einzelner Menschen einfach erfahren kann, da die Fenster hier nicht isolierend fungieren, sondern alles aus der privaten Wohnung, aus der Privatsphäre, herauskommt. Die Nähe der Fenster ist auf die Nähe der einzelnen Häuser („drängend fassen Häuser sich so dicht an“), welche zudem in dem 3. Vers personifiziert werden, zurückzuführen. Selbst die Straßen der Stadt würden laut dem Vergleich „Grau geschwollen wie Gewürgte“(vgl. V. 4) sehr eng aneinander drängen. Alles in der Stadt scheint auf engstem Raum gebaut worden und man würde davon ausgehen, dass entsprechend dieser Nähe auch die Menschen eine gewisse Nähe zueinander entwickelt hätte, so wie es bei engen kleinen Dorfgemeinschaften häufig auffällt. Um die Wirkung noch zu verstärken, verwendet Wolfenstein eine Alliteration („Grau geschwollen wie Gewürgte“, V. 4), die das Beengende der großen, grauen Häuser auf geradezu beängstigende Weise deutlich heraushebt. Außerdem benutzt Wolfenstein, um die Unpersönlichkeit dieser Stadt die vorangestellten Vergleiche, welche einem zeigen, dass alle Häuser sowie Fenster nicht voneinander zu unterscheiden sind. Zudem ist in der ersten Strophe eine Steigerung der Negativen Beschreibung der Enge der Stadt bis hin zum Tod zu erkennen. Wolfenstein benutzt in dieser Strophe den Charakter der Personifikation, denn nur Menschen können sich üblicherweise anfassen, nicht Häuser. So wird schon in der ersten Strophe auf eine Enge und dem zusammengezwängt sein zwischen den Menschen, welche aus der Enge der Häuser folgt, hingewiesen.

Die zweite Strophe des Quartettes beginnt wieder mit dem vorangegangenen Thema der Enge und Nähe. Nur dieses Mal befindet man sich nicht mehr in der Stadt bzw. man betrachtet die Stadt nicht mehr von außen. Man befindet sich mitten im Geschehen. Auch wird hier erstmals der Mensch mit eingebracht. Jedoch sind die Menschen, die in engstem Raum in einer Straßenbahn sitzen („Ineinander dicht eingehakt sitzen in den Trams die zwei Fassaden /Leute“ vgl. V. 5-7). Die Verse 6 und 7 sind durch ein Enjambement miteinander verbunden (zwei Fassaden/Leute), welcher dem Leser den Widerspruch zwischen räumlicher Nähe und persönlicher Ferne verdeutlicht. Obwohl die Menschen auf engstem Raum in einer Straßenbahn sitzen, sind sie sich so fremd, wie es Fassaden sind. Das Bild der Fassade steht in diesem Vers für die Unpersönlichkeit oder die unpersönliche Beziehung zwischen den Menschen dieser Stadt. Und das Enjambement verweist auf einen stilistischen und auch syntaktischen Zusammenhalt der beiden Verse. Sind die Verse von der Syntax her zusammengehörend, so sind sie einzig durch das Enjambement getrennt. Jeder Mensch in der Straßenbahn scheint also seriell vom anderen zu sein und somit sind die Menschen anonym und untereinander gefühlskalt, welches sehr passend zu der Personifikation der Fassaden im 7. Vers ist. Erkennbar ist in Vers 8 der Widerspruch „Blick eng ausladen“. Obwohl man in der Straßenbahn, gezwungener Weise sich unausweichlich auf engstem Raum bewegt, werden die Blicke in die Ferne gerichtet, sodass man sich nicht gegenseitig ansehen kann. Somit ist dem Menschen garantiert, dass es nicht zu persönlichen Kontakten zu den anderen Menschen in der Straßenbahn kommen kann. Außerdem scheinen die Menschen die Blicke der anderen Passagiere als „gierige“ Blicke („wo Blicke eng ausladen/ Und Begierde ineinadner ragt“) zu sehen, welche die passive Angsthaltung der Menschen in den „Trams“ erklären könnte. Somit fühlen sich die Personen den gierigen Blicken der Menschen ausgeliefert, obwohl sie die ganze Zeit ihre Anonymität bewahren können.

Erst in der dritten Strophe tritt das lyrische Ich das erste Mal explizit auf („unsre Wände“ V. 9, „wenn ich weine“ V. 10). Die Wände jedes Hauses in dieser Stadt und somit auch das des Hauses des lyrischen Ichs (welcher sich durch das „unsre“ als Stadtbewohner identifiziert“) seien so dünn wie Haut. Damit versucht das lyrische Ich auszudrücken wie eng es in dieser Stadt für ihn ist, und das dem lyrischen Ich selbst für intime Momente, zum Beispiel wenn er weint, keine Privatsphäre innerhalb des eigenen Hauses hat. Der Begriff der Haut symbolisiert etwas Dünnes, leicht verletzbares und fast durchsichtiges. Diese Assoziation des Begriffes „Haut“ wird durch das Adjektiv „dünn“ (V. 9) unterstützt. Es wird anschließend durch den Widerspruch im Vergleich von „Flüstern wie Gegröle“ verdeutlicht, das selbst das als eigentlich privat gedachte „weinen“ des lyrischen Ichs in diesen Umständen nicht privat bleiben kann.

Trotz all dieser Nähe, Enge und fehlenden Privatsphäre kommt es aber nicht zu zwischenmenschlichen Kontakten, wie man in dem zweiten Terzett deutlich erkennen kann. Obwohl jeder Mensch wie in einem Haus mit „Wände(n) so dünn wie Haut“(V. 9) lebt „steht doch jeder (Stadtbewohner)“(V. 14) „stumm wie in abgeschlossner Höhle“ (V. 12). Es zeigt sich, dass die Stadtbewohner doch voneinander isoliert existieren, obwohl sie auf engstem Raum leben und der Kontakt der Menschen (hier im Beispiel der Straßenbahn) unausweichlich erscheint. Dass in Vers 13 einzig und allein kein 5 hebiger, sondern 4 hebiger Trochäus vorhanden ist, ist nicht zufällig. Dieser Vers beschreibt die persönliche Haltung der „Städter“, welche versuchen „unberührt und ungeschaut“ ihr Leben zu meistern. Jedoch sieht das Gedicht in dem letzten Vers das Fazit des Bemühens der Einwohner dieser Stadt. Die letzte Strophe kehrt also das Bild des ersten Quartettes um; beginnt das Gedicht mit dem Wort „Nah“, so endet es mit „alleine“. „…stumm in abgeschlossner Höhle“ (Z. 1) denkt der Großstadtmensch nur an sich, nicht jedoch an den Nächsten, der doch so nah hinter der papierenen Wand, hinter dem benachbarten Loch des Siebes, lebt. Letztendlich lebt jeder Mensch für sich und ist mit seinen Gefühlen, seinem Leid, seiner Freude und all seinen Erfahrungen allein. Er kann diese nicht mit anderen Menschen teilen, obwohl diese Möglichkeit, verstärkt durch die Enge der Häuser der Stadt, gegeben wäre.

An dieser Stelle lässt sich ein Bezug zur Epoche des Expressionismus herstellen. Dieses Gedicht hat das Thema „Stadt und ihre Einwohner“. Die Großstadt war eines der zentralen Themen des Expressionismus. Zudem wird deutlich, dass Wolfenstein die Anonymität der Großstadt, in der die Menschen seiner Zeit lebten und in der es kaum möglich war Geheimnisse zu haben, jedoch ohne zwischenmenschliche Kontakte auszukommen, kritisiert.

Meiner Meinung nach ist dieses Gedicht ein beeindruckendes Werk seiner Zeit. Dieses Gedicht beinhaltet einige typisch expressionistische Ansichten. Auch der Zusammenhang der Straßenbahn mit der Stadt, welche in dieser Zeit aufblühte, ist für diese Epoche typisch, da die Menschen zur damaligen Zeit Angst vor einer Überflutung von Technik hatten. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich in der konfliktbeladenen Beziehung Mensch – Stadt widerspiegelt, ist die herrschende Anonymität. Obwohl man räumlich gesehen eng beieinander wohnt (man denke nur an die anonymen Wohnsilos oder an das generell gedrängte Leben in der Stadt), herrscht geistige und emotionale Distanz, ja Kälte zwischen den Menschen.

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