Kirsch, Sarah - Bei den weißen Stiefmütterchen (kurze Interpretation)

Schlagwörter:
Sarah Kirsch, Gedichtinterpretation, lyrisches Ich, Erzählperspektive, Referat, Hausaufgabe, Kirsch, Sarah - Bei den weißen Stiefmütterchen (kurze Interpretation)
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Referat

Sarah Kirsch – Bei den weißen Stiefmütterchen

Analyse / Interpretation

Das Gedicht „Bei den weißen Stiefmütterchen“ wurde von Sarah Kirsch im Jahre 1967 geschrieben. Sarah Kirsch wurde am 16. April 1935 in Limlingerode geboren. Sie verstarb am 5. Mai 2013 in Heide (Holstein). Kirsch war eine deutsche Schriftstellerin. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen. Ihre Lyrik ist von der Form her offen, meist ohne Reim und in freiem Versmaß. Dennoch spielt der Rhythmus im Sinne des Atemtempos eine große Rolle, ebenso Zeilenumbrüche und Zeilensprünge, durch die ein Strömen oder eine Atemlosigkeit erzeugt wird. Kirsch kombiniert häufig fachsprachliche oder altmodische Ausdrücke mit einem saloppen Ton.

Das Gedicht handelt von dem vergeblichen Warten des lyrischen Ichs auf den Geliebten. Das Gedicht hat drei Strophen zu jeweils 5 Versen, die kein Reimschema aufweisen. Ebenso fehlt die komplette Zeichensetzung, mit einer Ausnahme in Vers 7: „[…] eine Gräte verschluckt, eine Straße […]“.

Um mehrere Verse miteinander zu verbinden, benutzt die Autorin unter anderem ein Enjambement: „[…] eine Straße wurde plötzlich verlegt oder er kann seiner Frau nicht entkommen“ (Vers 6-9). In Vers 12 wird der Weide eine starke Ironie gegeben, die eigentlich ganz anders gemeint ist, als der Leser sie zunächst aufnimmt: „kann auch sein er ist schon tot“. Das letzte Stilmittel der Sprache ist die Personifizierung der Weide, bei der das lyrische Ich wartet und mit der es redet (Vgl. Vers 5). Die elliptische Inversion „kann auch sein er ist schon tot“ (Vers 12) betont und ist als Steigerung zu den Vermutungen des lyrischen Ichs in der zweiten Strophe zu sehen. Durch die Wiederholung „kann sein“ (Vers 14) wird die Zustimmung und Einsicht betont, dass weiteres Warten vergeblich ist.

Die Erzählperspektive des lyrischen Ichs erleichtert es der Autorin, an die Gefühle des Lesers zu appellieren. Sie fordert ihn auf, auf die Gefühle der Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, egal wie schwer die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf die Gefühlswelt des anderen sind. Die Farbe „weiß“ (Vers 1) in der ersten Strophe steht für die Unschuld. Gekoppelt mit der Metapher des „Stiefmütterchens“ (Vers 1), die für einen verlassenen Menschen steht, wird verdeutlicht, dass sich der Geliebte, ohne eigenes Verschulden des lyrischen Ichs, von ihm getrennt hat. Das lyrische Ich steht im Park bei den weißen Stiefmütterchen und wartet auf ihren Geliebten bereits sehr lange (Vgl. Vers 1-2). Es ist der Ort, an dem sich das lyrische Ich und ihr Geliebter wahrscheinlich immer heimlich getroffen haben. Es ist leicht verzweifelt und unruhig, da sie anfängt mit der Weide bzw. die Weide mit ihr zu reden: „siehst du sagt sie […]“ (Vers 5).

Das lyrische Ich ist scheinbar eine Frau. Dass die Autorin schreibt, der Geliebte würde vielleicht nicht von seiner Frau entkommen, deutet wiederum darauf hin, dass der Geliebte ein Mann ist (Vgl. Vers 9). Die versetzte Frau sucht Gründe und Ausreden für das Fernbleiben des Geliebten, was daraufhin deutet, dass sie es auf den ersten Blick nicht so schlimm findet. Schließlich ist er ein verheirateter Mann, auf den sie vergeblich wartet: „[…] sich den Fuß gebrochen eine Gräte verschluckt […] seiner Frau […]“ (Vers 6-7, 9). Der „gebrochene Fuß“ (Vers 6) zeigt metaphorisch, dass er am Gehen gehindert wird, so gern er auch zu ihr kommen würde, die „verschluckte Gräte“ (Vers 7) zeigt jedoch schon, dass sich das lyrische Ich an Lappalien klammert, die sein Fernbleiben nicht rechtfertigt. Die Metapher der „verlegten Straße“ (Vers 7) meint eigentlich eine Umleitung, über die man, wenn auch mit größerem Zeitaufwand, dennoch sein Ziel erreicht. Da aber ein Teil der Straße scheinbar gänzlich herausgerissen und an eine andere Stelle verschoben wurde, ist ein Durchkommen unmöglich. An dieser Stelle wird die Übertreibung des lyrischen Ichs sehr stark deutlich. Das „entkommen“ (Vers 9) des Geliebten von seiner Ehefrau zeigt, dass deren Beziehung nicht intakt ist. Durch die Verneinung „nicht“ (Vers 9) wird jedoch klar, dass er unter der Kontrolle seiner Frau steht oder sich aber trotz seiner Affäre, nicht ganz von ihr losreißen kann, um mit dem lyrischen Ich ein neues Leben zu beginnen.

Zum Schluss redet die Weide wieder mit dem lyrischen Ich. Sie wiegt eine andere Möglichkeit bzw. einen anderen Grund des Nichterscheinens des Geliebten in den Vordergrund. Angeblich vermute sie, dass der Geliebte tot sein könnte (Vgl. Vers 12). Wahrscheinlich sollte es auf eine Krankheit zurückführen, da der Geliebte beim letzten Treffen sehr blass aussah: „Sah blaß aus als er dich untern Mantel küsste“ (Vers 13). Doch eigentlich meinte sie damit „Ey, der will einfach nicht kommen!“, was sie dem lyrischen Ich gegenüber nicht so direkt sagen wollte, um sie nicht noch weiter zu verletzen. Und so versuchte die Weide eine plausible Erklärung dafür zu finden, dass er wirklich nicht kommen kann bzw. würde.

Das lyrische Ich stimmt der Weide zu: „kann sein Weide kann sein“ (Vers 14). Sie versteht jedoch die Botschaft der Weide nicht sofort und glaubt an den Tod ihres Geliebten. Das lyrische Ich hofft, dass ihr Geliebter sie nicht mehr liebt (Vgl. Vers 15). Dies verdeutlicht, dass sie sich nicht an ihren Geliebten klammert und ihn los lassen kann. Und doch glaubt sie nun der Weide und versteht, was die Weide ihr sagen wollte.

Zusammenfassend bleibt zu erwähnen, dass das lyrische Ich Treffen mit einem verheirateten Mann hatte. Sie gibt zu verstehen, dass sie trotz der Trennung weiter lebt und liebt sowie auf eigenen Füßen stehen kann bzw. den Geliebten dafür nicht braucht. Die Frau will es zunächst nicht wahrhaben, was die Weide ihr sagt, doch im Nachhinein schon, da sie dann hofft, er würde sie auch nicht mehr lieben. Der biografische Hintergrund ist im Gegensatz zu dem Gedicht ganz anders. Im wahren Leben ist die junge Frau mit Rainer Kirsch verheiratet und beginnt eine Affäre mit den West-Berliner Christoph Meckel. Sie sieht die Liebe als einen Moment des Glücks ohne Anspruch auf Dauer. In der Liebe muss immer mit Trennung oder Verlust gerechnet werden.

Allgemeines

  • 3 Strophen, 5-versig; Kein Reimschema
  • Weide: Treffpunkt; missgünstiger Gesprächspartner („Siehst du, er kommt nicht“); Weise;
  • Trauermotiv; alt, schwermütig („knarrt“)
  • Frau entschuldigt den Abwesenden und muss am Ende doch zugeben: „er kann seiner Frau nicht entkommen“
  • Überraschend: „so wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr“
    • Sie will das Erwartbare (die erhoffte Gegenliebe) nicht um jeden Preis – weder für sich als Geliebte, noch für ihn, den verheirateten Mann.
    • „Wer so selbstlos lieben kann, muss sehr selbstbewusst sein“ (Ulla Hahn)
      • Ist nicht auf ihn angewiesen, kann sich an sich selber halten
      • Ist freiwillig zu ihm gekommen, kann sich und ihn auch freiwillig freisprechen
  • Unideologisches, modernes Frauenbild
  • Lässt dank uneindeutiger Bilder und Formulierungen Interpretationsspielraum für ein konstruktives (Leser-)Verstehen

Stimmung

  • Scheinbar zurückgenommene Emotionalität (Schein trügt, eigentlich sehr emotionsvoll → verschlüsselt)
  • Verstehensbereitschaft/ Einfühlungsvermögen, in die Situation des Geliebten, der nicht kommt

Sprechsituation

  • Vergebliches Warten auf den verheirateten Geliebten (verbotene Liebe) an einer Weide → („alter Ego“-Funktion) bekannter Treffpunkt
  • Gespräch mit der Weide über Motive des Nichtkommens reflektiert
    • Keine Schuldzuweisung
    • keine Erklärung

Bilder/ Motive, die Traurigkeit ausdrücken

  • Trauerweide; unnatürlich blattlos
  • Stiefmütterchen: Grabbepflanzung, stief – verlassen/ verwaist
  • Tod direkt angesprochen
  • Interjektion „Ach“
  • Pflanzen, die Schmerzmittel enthalten

Stilistik

  • Mehrdeutige Satzstrukturen
  • Atemlosigkeit, der Satzzeichen zum Opfer fallen
  • Inversionen
  • Märchenmotive (wie in der Romantik); hier: Weide kann reden

Liebe

  • Liebe als Glücksmöglichkeit ohne Anspruch auf Dauer
  • Trennung + Verlust sind immer möglich
  • Selbstloses mitfühlen, keine Rache, kein Wehklagen
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