Erinnerung von Rudolf Presber

Der Abend kam. Die Schatten fielen.
Rings an den Fenstern ward es hell
Die Kleine, müd von Lauf und Spielen,
lag mir am Fuß im Bärenfell.
 
Die nackten Beinchen hochgezogen,
hielt sie in kleiner Hand den Stift
und füllte meinen schönsten Bogen
mit Häkchen einer Runenschrift.
 
Rings war's so still, wie zum Gebete;
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der ems'ge Stift nur raschelt leis ...
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Es schrieb kein Dichter und Prophete
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sein Weisheitsbuch mit groessrem Fleiss!
 
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Da plötzlich schmeichelnd mit den lieben
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Äuglein mein Kindchen zu mir schlich:
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"Weisst du, Papa, was ich geschrieben?"
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"Ein Briefchen?" - "Ja" - "An wen?" - "An dich!"
 
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"Goldkind, an mich? Was steht darinnen?
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Der Abend macht die Augen trüb ..."
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und sie, nach lächelndem Besinnen: ...
20 
"Dass ich dich lieb hab', furchtbar lieb!"
 
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Es floss ein letzter Sonnenschimmer
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ums Köpfchen ihr mit goldnem Hauch
23 
"Das schreibst du mir im selben Zimmer?
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Sag's mir doch laut, dann weiß ich's auch."
 
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Da sah mich an das kleine Wesen
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und reicht' das Blatt mir lächelnd hin:
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"Behalt's, Papa, dann kannst du's lesen,
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wenn ich mal nicht im Zimmer bin ..."
 
29 
... O bittres Wort aus lieben Zeiten,
30 
das du der Sehnsucht Flügel leihst!
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Es schlug die Stunde längst zum Scheiden,
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und dieses Zimmer ist verwaist.
 
33 
Von deinem Jauchzen, deinem Lieben,
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von all dem, was sich nie vergisst,
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ist nur ein Blatt zurückgeblieben,
36 
das wirr und kraus bekritzelt ist ...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Erinnerung“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
222
Entstehungsjahr
1868 - 1935
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das abgebildete Gedicht mit dem Titel „Erinnerung“ stammt von dem deutschen Dichter und Schriftsteller Rudolf Presber, der von 1868 bis 1935 lebte. Das erscheinen des Gedichtes ist nicht bekannt, aber es ist davon auszugehen, dass es in die spätere Phase seines Schaffens fällt, also in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht eine sehr intim und persönliche Szene schildert, die den Eindruck einer Familienidylle erweckt. Es wird eine Abendszene beschrieben, in der ein Kind auf einem Bärenfell sitzt, spielt und schreibt. Die Distanz zwischen Kind und lyrischem Ich, das hier als Vater agiert, wird durch liebevolle und zärtliche Worte überbrückt. Diese trauliche Stimmung wird jedoch im Laufe des Gedichtes durch eine melancholische und traurige Note abgelöst.

Das lyrische Ich erinnert sich an einen Abend mit seinem kleinen Kind. Das Kind, müde vom Spielen, sitzt auf einem Bärenfell und bemalt mit großer Hingabe und Konzentration, mit einem Stift in der Hand, sein Papier. Diese Szenerie führt zu einer ruhigen und lieblichen Atmosphäre, die nur durch das leise Geräusch des schreibenden Stiftes unterbrochen wird. Das Kind schreibt einen brief an den Vater, in dem es seine Liebe ausdrückt. Diese idyllische Szene mündet jedoch in eine bittere Erinnerung, da das Kind nicht mehr im Zimmer ist und nur das bekritzelte Blatt übrig bleibt.

Das Gedicht ist in neun Strophen unterteilt, wobei jede Strophe vier Verse hat. Daher handelt es sich um einen Vierzeiler. Die Sprache des Gedichtes ist einfach und verständlich und dadurch äußerst zugänglich. Presber verwendet einfache aber bildhafte Wörter, die schnell Emotionen erwecken und die Szene vor dem inneren Auge lebendig werden lassen. Die verwendeten Worte wie „Kleine“, „lieb“, „Goldkind“ und „furchtbar lieb“ unterstreichen die familiäre und liebevolle Beschreibung der Szene.

Die Interpretation der Botschaft des Gedichtes kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Zum einen kann es als eine Hommage an die innige Liebe und enge Bindung zwischen Vater und Kind gesehen werden. Zum anderen thematisiert es den unausweichlichen Lauf des Lebens, dem auch eine tiefe Eltern-Kind-Liebe unterworfen ist. Es erinnert uns daran, dass Kinder heranwachsen und irgendwann ihr Elternhaus verlassen. Es zeigt die Vergänglichkeit der Zeit und der gemeinsam verbrachten Momente auf. Aber es zeigt auch, dass diese Momente und Erinnerungen zwar vorüber sind, aber in den Herzen und Gedanken der Liebe bestehen bleiben.

Weitere Informationen

Rudolf Presber ist der Autor des Gedichtes „Erinnerung“. Im Jahr 1868 wurde Presber in Frankfurt am Main geboren. Im Zeitraum zwischen 1884 und 1935 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus, Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 222 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 36 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rudolf Presber sind „Märzsonne“, „Umsonst“ und „Myrrha“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Erinnerung“ keine weiteren Gedichte vor.

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