An einen Schwabinger Bürger von Ludwig Thoma

Denkst du daran?
Denkst du noch rückerinnernd jener
Verfloss’nen Zeit,
Wo dir die adligsten Rumäner
In Geldverlegenheit,
Wo dir Fürst Ghika als Bojar,
Der immer abgebronnen war,
Mit Ehrenwort den Schwur getan.
Sie wollten dir ein andermalen
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Und morgen schon die Wurst bezahlen?
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Du weißt, wie deine Frau sich sorgte,
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Wenn das Gesindel immer borgte,
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Und du – na ja, in Gottes Namen,
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Gabst ihnen wieder, wenn sie kamen
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Nun aber bist du tief verletzt.
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Ist das der Dank,
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Wie gegen uns die Bande hetzt?
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Der Ärger macht dich krank –
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Du meinst als schlichtes Publikum,
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Du warst zu gut – und warst zu dumm.
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Sei ruhig! Schau die andern an,
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Die haben Schlimmeres getan.
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Die Herren, die die Kunstwelt lenken
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Und in der Zeitung für uns denken,
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Und die mit hohem Selbstvertrauen
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Uns täglich deutsche Kunst versauen,
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Wie fanden sie Geschmack
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An dem Schlawinerpack!
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An Burschen, die den Kniff verstanden,
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Bald die, bald jene Richtung fanden,
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In der man ohne Kunst und Fleiß
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Sich als Genie zu geben weiß!
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Wie das die Zeilenschreiber fraßen!
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Wie sie auf ihren Hosen saßen
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Die Kritici,
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Daß das Genie,
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Das sich so frech und ungebärdig,
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So unverschämt und zukunftwerdig,
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So seltsam gab und laut rumorte,
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Sich endlich ins Verständnis bohrte!
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Du wardst sie los mit einem Fluch,
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Strichst ihren Namen aus dem Buch –
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Doch das, was sie als Kunst betrieben,
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Verehrter Freund, das ist geblieben.
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Den Dreck, den sie uns hinterließen,
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Den müssen wir noch fort genießen
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Als „Expression“,
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Und uns zum Hohn
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Grinst er uns aus den Fenstern an,
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So frech, wie er’s von je getan.
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Die Wunde schwärt. Da hilft kein Pflaster,
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Die Kunst ist krank
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Und siecht nun dank
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Dem gottverdammten Kritikaster.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.4 KB)

Details zum Gedicht „An einen Schwabinger Bürger“

Autor
Ludwig Thoma
Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
54
Anzahl Wörter
281
Entstehungsjahr
1916
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „An einen Schwabinger Bürger“ stammt von Ludwig Thoma, einem deutschen Autor, der in der Zeit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte. Dieses Gedicht mag im Kontext der Umbrüche und Bewegungen der Kunstszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sein, erkennbar an Thomass spielerischer Kritik an der damaligen Avantgarde.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht humorvoll und ironisch, vermittelt aber gleichzeitig auch Kritik und Ärger. Die Geschichte wird in Versen erzählt, was einen lebhaften und flüssigen Lesefluss ermöglicht.

Im Grunde handelt das Gedicht von einem Bürger, der sich an seine Erlebnisse mit betrügerischen, mittellosen Adeligen und Künstlern erinnert. Diese haben ihn in der Vergangenheit ausgenutzt und ihm versprochen, ihre Schulden zurückzuzahlen, was sie jedoch nie taten. Während er sich verärgert und betrogen fühlt, wird ihm gesagt, dass andere es noch schlimmer getroffen haben. Thoma nimmt in seiner Lyrik einen skeptischen Standpunkt gegenüber der zeitgenössischen Kunstszene ein und bezeichnet sie als Betrug, da sie sich ohne wirkliche Fähigkeiten oder Anstrengungen als Genies ausgeben und von der Gesellschaft akzeptiert werden.

In Bezug auf die Form und Sprache variiert Ludwig Thoma zwischen formellen und umgangssprachlichen Ausdrücken. Es gibt eine bestimmte rhythmische Struktur und der Gebrauch der Reime verstärkt den Fluss und die Lebendigkeit des Gedichts. Jeder Vers baut auf dem vorherigen auf und führt die Erzählung fließend weiter. Die Wortwahl ist einfach und verständlich und unterstützt somit die humorvolle und zugängliche Art von Thomass Kritik.

Insgesamt ist „An einen Schwabinger Bürger“ ein humoriges und kritisches Gedicht, das sowohl auf persönlicher Ebene über die Frustrationen des lyrischen Ichs mit unehrlichen Individuen erzählt, als auch eine größere Kritik an der verändernden Kunstszene der damaligen Zeit anklingen lässt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An einen Schwabinger Bürger“ des Autors Ludwig Thoma. 1867 wurde Thoma in Oberammergau geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1916 zurück. In München ist der Text erschienen. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Moderne, Expressionismus oder Avantgarde / Dadaismus zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 281 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 54 Versen mit nur einer Strophe. Weitere Werke des Dichters Ludwig Thoma sind „Neujahr bei Pastors“, „Silvesternacht“ und „Weihnachten“. Zum Autor des Gedichtes „An einen Schwabinger Bürger“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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