Erscheinung von Adelbert von Chamisso
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Die zwölfte Stunde war beim Klang der Becher |
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Und wüstem Treiben schon herangewacht, |
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Als ich hinaus mich stahl, ein müder Zecher. |
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Und um mich lag die kalte, finstre Nacht; |
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Ich hörte durch die Stille widerhallen |
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Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht. |
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Wie aus den klangreich fest-erhellten Hallen |
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In Einsamkeit sich meine Schritte wandten, |
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Ward ich von seltsam trübem Mut befallen. |
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Und meinem Hause nah, dem wohlbekannten, |
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Gewahrt ich, und ich stand versteinert fast, |
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Daß hinter meinen Fenstern Lichter brannten. |
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Ich prüfte zweifelnd eine lange Rast, |
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Und fragte: macht es nur in mir der Wein? |
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Wie käm zu dieser Stunde mir ein Gast? |
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Ich trat hinzu, und konnte bei dem Schein |
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Im wohlverschloßnen Schloß den Schlüssel drehen, |
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Und öffnete die Tür, und trat hinein. |
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Und, wie die Blicke nach dem Lichte spähen, |
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Da ward mir ein Gesicht gar schreckenreich, |
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Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen. |
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Ich rief: »Wer bist du, Spuk?« - er rief sogleich: |
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»Wer stört mich auf in später Geisterstunde?« |
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Und sah mich an, und ward, wie ich, auch bleich. |
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Und unermeßlich wollte die Sekunde |
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Sich dehnen, da wir starrend wechselseitig |
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Uns ansahn, sprachberaubt mit offnem Munde. |
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Und aus beklommner Brust zuerst befreit ich |
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Das schnelle Wort: »Du grause Truggestalt, |
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Entweiche, mache mir den Platz nicht streitig!« |
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Und er, als einer, über den Gewalt |
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Die Furcht nur hat, erzwingend sich ein leises |
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Und scheues Lächeln, sprach erwidernd: »Halt! |
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Ich bin's, du willst es sein; - um dieses Kreises, |
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Des wahnsinn-drohnden, Quadratur zu finden, |
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Bist du der rechte, wie du sagst, beweis es; |
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Ins Wesenlose will ich dann verschwinden. |
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Du Spuk, wie du mich nennst, gehst du das ein, |
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Und willst auch du zu Gleichem dich verbinden?« |
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Drauf ich entrüstet: »Ja, so soll es sein! |
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Es soll mein echtes Ich sich offenbaren, |
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Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schein!« |
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Und er: »So laß uns, wer du seist, erfahren!« |
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Und ich: »Ein solcher bin ich, der getrachtet |
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Nur einzig nach dem Schönen, Guten, Wahren; |
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Der Opfer nie dem Götzendienst geschlachtet, |
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Und nie gefrönt dem weltlich eitlen Brauch, |
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Verkannt, verhöhnt, der Schmerzen nie geachtet; |
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Der irrend zwar und träumend oft den Rauch |
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Für Flamme hielt, doch mutig beim Erwachen |
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Das Rechte nur verfocht: - bist du das auch?« |
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Und er mit wildem, kreischend lautem Lachen: |
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»Der du dich rühmst zu sein, der bin ich nicht. |
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Gar anders ist's bestellt um meine Sachen. |
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Ich bin ein feiger, lügenhafter Wicht, |
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Ein Heuchler mir und andern, tief im Herzen |
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Nur Eigennutz, und Trug im Angesicht. |
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Verkannter Edler du mit deinen Schmerzen, |
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Wer kennt sich nun? wer gab das rechte Zeichen? |
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Wer soll, ich oder du, sein Selbst verscherzen? |
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Tritt her, so du es wagst, ich will dir weichen!« |
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Drauf mit Entsetzen ich zu jenem Graus: |
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»Du bist es, bleib, und laß hinweg mich schleichen!« |
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Und schlich, zu weinen, in die Nacht hinaus. |
Details zum Gedicht „Erscheinung“
Adelbert von Chamisso
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470
1781 - 1838
Romantik
Gedicht-Analyse
Adelbert von Chamisso ist der Autor des Gedichtes „Erscheinung“. Chamisso wurde im Jahr 1781 geboren. Im Zeitraum zwischen 1797 und 1838 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Romantik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Chamisso handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.
Die Romantik ist eine Epoche der Kunstgeschichte, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Literatur, Musik, Kunst und Philosophie prägte. Auf die Literatur beschränkt betrachtet reichen die Auswirkungen der Romantik lediglich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Bis in das Jahr 1804 hinein spricht man in der Literatur von der Frühromantik, bis 1815 von der Hochromantik und bis 1848 von der Spätromantik. Die Zeit der Romantik war für die Menschen in Europa von bedeutenden Umbrüchen geprägt. Die Französische Revolution (1789 - 1799) zog weitreichende Folgen für ganz Europa nach sich. Auch der Fortschritt in Wissenschaft und Technik, der den Beginn des industriellen Zeitalters einläutete, verunsicherte die Menschen und prägte die Gesellschaft. Wesentliche Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Andere Motive sind das Fernweh, das Nachtmotiv oder die Todessehnsucht. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Geheimnisvolle, Mysteriöse und galt als Quelle der Liebe. Typische Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Kunst und Architektur des Mittelalters wurden von den Romantikern wieder geschätzt. Die äußere Form von romantischer Literatur ist völlig offen. Kein starres Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits unmittelbar nach Erscheinen der Werke wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.
Das Gedicht besteht aus 64 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 470 Worte. Weitere Werke des Dichters Adelbert von Chamisso sind „Die Kreuzschau“, „Die Löwenbraut“ und „Zweites Lied von der alten Waschfrau“. Zum Autor des Gedichtes „Erscheinung“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 146 Gedichte vor.
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Zum Autor Adelbert von Chamisso sind auf abi-pur.de 146 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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