Die Uhr von Johann Gabriel Seidl

Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wieviel es geschlagen habe,
Genau seh' ich's an ihr.
 
Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.
 
Ich wollte, sie wär' oft rascher
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Gegangen an manchem Tag:
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Ich wollt' an manchem Tage,
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Sie hemmte den raschen Schlag.
 
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In meinen Leiden und Freuden,
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Im Sturme und in Ruh, –
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Was immer geschah im Leben,
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Sie pochte den Takt dazu.
 
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Sie schlug am Sarge des Vaters,
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Sie schlug an des Freundes Bahr',
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Sie schlug am Morgen der Liebe,
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Sie schlug am Traualtar.
 
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Sie schlug an der Wiege des Kindes, –
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Sie schlägt, will's Gott! noch oft,
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Wenn bessere Tage kommen,
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Wie meine Seel es hofft.
 
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Und ward sie manchmal träger,
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Und drohte zu stocken ihr Lauf,
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So zog sie der Meister mir immer
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Großmütig wieder auf.
 
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Doch stände sie einmal stille,
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Dann wär's um sie geschehn,
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Kein and'rer, als der sie fügte,
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Bringt die zerstörte zum Gehn!
 
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Dann müßt' ich zum Meister wandern,
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Und ach, der wohnt gar weit,
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Wohnt draußen, jenseits der Erde,
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Wohnt dort in der Ewigkeit.
 
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Dann gäb' ich sie dankbar zurücke,
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Dann würd' ich kindlich flehn:
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?Sieh', Herr, – ich hab' nichts verdorben,
40 
Sie blieb von selber stehn."
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Die Uhr“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
211
Entstehungsjahr
1804 - 1875
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Uhr“ stammt von dem österreichischen Schriftsteller Johann Gabriel Seidl, der zwischen 1804 und 1875 lebte. Dieser Zeitrahmen lässt das Gedicht in einer Epoche der europäischen Literatur verorten, die gemeinhin als Biedermeier bzw. Vormärz klassifiziert wird.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht sehr klar und strukturiert – ein Aspekt, der durch die Bestimmtheit und Zuverlässigkeit einer Uhr symbolisiert wird. Aber das Gedicht geht deutlich tiefer und nutzt die Uhr als Metapher für das sich unaufhaltsam fortbewegende Leben.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht die beständige Begleitung des lyrischen Ich durch die Uhr – und somit durch die Zeit. Es wird erzählt, wie das lyrische Ich die Zeit erlebt hat, in Momenten des Leids und der Freude, in Zeiten des Sturms und der Ruhe. Es verdeutlicht, wie die Zeit bedeutende Momente des Lebens begleitet hat – den Tod des Vaters, die Liebe, die Heirat, und die Geburt eines Kindes.

Die Uhr und ihr Ticken stehen sinnbildlich für die Vergänglichkeit des Lebens, für die Momente des Glücks und der Trauer. Der Wunsch des lyrischen Ichs, sie manchmal schneller oder langsamer gehen zu lassen, spiegelt die menschliche Sehnsucht wider, bestimmte Momente im Leben festhalten oder beschleunigen zu wollen. Die Uhr jedoch, folgt stets ihrem Takt – gleichgültig gegenüber den menschlichen Wünschen.

Das Gedicht folgt einer sehr klar strukturierten Form mit regelmäßigen Vierzeilern und einem gereimten Versschema. Damit verdeutlicht es auf formaler Ebene die Beständigkeit und Regelmäßigkeit der Uhr. Die einfache und direkte Sprache trägt zu einer nachvollziehbaren und zugänglichen Lesart des Gedichtes bei.

In der letzten Strophe wird die Uhr als etwas dargestellt, dass letztendlich stehen bleiben wird, wenn ihr „Lauf“ beendet ist, was einerseits das Ende des Lebens und zudem die Unausweichlichkeit des Todes symbolisiert. Der Bezug zum „Meister“, der in weiter Ferne „wohnt“, deutet hierbei auf einen göttlichen Schöpfer hin. Dieser Aspekt verleiht dem Gedicht eine spirituelle Dimension, die einen tiefergehenden Überblick über das Verständnis von Seidl hinsichtlich Leben, Tod und Vergänglichkeit bietet.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Uhr“ des Autors Johann Gabriel Seidl. Im Jahr 1804 wurde Seidl in Wien geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1820 bis 1875 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das 211 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Ein weiteres bekanntes Gedicht des Autors Johann Gabriel Seidl ist „Schneeflocken“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Uhr“ keine weiteren Gedichte vor.

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