Blütenfülle von Karl Bartsch

Es war die wundersüße Frühlingszeit.
Im kleinen Gärtchen schritt ich still versunken,
Es sah mein Aug' entzück und freudetrunken
Die lieben Bäume blütenüberschneit.
 
Da faßt ein Wind den blütenreichen Ast
Und schüttelt nieder seine süße Last,
Daß, weiß bestreut, der Boden um mich her
Im Grün erschien ein weißes Blütenmeer.
?Ach, ward nur darum dieser Blüten Zier,
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Du armer Baum, verliehn vom Himmel dir",
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So rief ich aus, ?daß du nach kurzem Leben
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Fruchtlos sie mußt der Erde wiedergeben?"
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Ein alter Gärtner, der in guter Ruh
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Dort schaffte, hörte meiner Klage zu,
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Und lächelnd sprach er: ?Wie Ihr doch nur klagt
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Und falsches Mitleid mit dem Baume tragt.
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Wenn aller dieser Blüten reiche Würde,
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Die Ihr erblickt, am beladnen Baum
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Zu Früchten einst im reifen Herbste würde,
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Es trügen sie die schwachen Äste kaum.
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Drum hat es weislich so Natur bestimmt,
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Daß sie die Überlast vom Baume nimmt
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Und nur so viel ihm läßt, als er zu tragen
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Als Frucht dereinst vermag in Herbstestagen."
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?Mag sein," sprach ich, ?doch wenn dem also war,
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Warum Natur, die andern erst gebar,
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Warum sie nicht so viele bloß erzeugt,
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Als ihr genug um Frucht zu geben däucht'?
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Warum umsonst doch mußten so viel sterben,
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Die keine Frucht vermochten zu erwerben?"
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?Ei Herr, wenn nur soviel am Baum erschienen,
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Als ihn mit Früchten zu beladen dienen,
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Wo bliebe dann der Anblick süßer Lust,
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Der uns im Frühling jauchzend hebt die Brust?
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Wo dieses wonnereiche Blütenmeer,
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Das unser Aug' entzückte ringsumher?
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O nein, so ärmlich hat Gott nicht gedacht,
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Als er der Blüten Fülle hat gemacht.
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Wer reich sich fühlt, gibt aus der Fülle gerne
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Und denkt nicht an den Nutzen in der Ferne."
 
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Ich sann dem Worte, das der Alte sprach
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Aus voller Brust, im Weitergehen nach;
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Und wie ein Bild der Jugend schien es mir,
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Was er gesagt vom Blütenbaume hier.
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Ach, würden alle Blütenträum' erfüllt,
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Die eines Jünglings reiche Brust umhüllt,
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Ihm bräche wohl das Herz der Wonne Last
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Wie reicher Fülle fruchtbeladnen Ast.
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Es sorgte liebend schon der Herr der Erde,
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Daß ihm so viel der Frucht gereifet werde,
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Als seinen Herbst des Lebens freundlich schmückt.
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Doch auch die Träume, die der Sturm erfaßte
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Und gleich der Blüt' herabgeweht vom Aste,
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Sie haben einst sein junges Herz beglückt;
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Und nimmer mag sie die Erinnrung missen,
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Sollt' auch das Herz sie bald verbleichend wissen.
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Die Jugend wäre nie so schön gewesen,
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Wenn auch nur eine von den Blüten fehlte
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Zum vollen Lenz, der ihm das Herz beseelte
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Und der noch spät, wenn er vom Wahn genesen
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Im reifen Herbst, da er die Frucht gepflückt,
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In der Erinnrung sein Herz beglückt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Blütenfülle“

Autor
Karl Bartsch
Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
62
Anzahl Wörter
438
Entstehungsjahr
1832 - 1888
Epoche
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Karl Bartsch, ein Philologe, Schriftsteller und Literaturhistoriker aus dem 19. Jahrhundert.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine Auseinandersetzung mit dem Wandel der Zeit, die Vergänglichkeit und die Schönheit der Natur. Es besticht vor allem durch seine klare, poetische und bildreiche Sprache.

Inhaltlich kann das Gedicht in einfache Worte als eine Betrachtung der Funktionsweise der Natur gefasst werden, wobei die Natur als Metapher für die menschliche Erfahrung steht. Die unpersönliche Naturereignisse - die Blüte der Bäume, der Wind, der die Blüten abwirft - werden als eine Art Parabel verwendet, um die Notwendigkeit von Verlust, Wandel und Vergänglichkeit im Laufe des Lebens darzustellen. Das Ich in der Lyrik beginnt mit Bedauern über die Vergänglichkeit der Blüten, aber der alte Gärtner erinnert ihn daran, dass nicht alle Blüten zu Früchten werden können, ohne den Baum zu belasten. In ähnlicher Weise schließt das lyrische Ich, dass nicht alle Träume und Hoffnungen der Jugend in Erfüllung gehen können oder sollten.

In Bezug auf die Form, besteht Bartschs Gedicht aus drei Strophen unterschiedlicher Länge - vier, sechsunddreißig und zweiundzwanzig Verse. Die Variation in der Verslänge gibt dem Gedicht einen Rhythmus, der die Botschaft des Gedichts unterstützt. Die längere zweite Strophe, in der der alte Gärtner spricht, vermittelt die Weisheit und Erfahrung, die er hat.

Die Sprache des Gedichts ist einfach, klar und bildreich, sie strahlt Romantik und Wärme aus und passt perfekt zur metaphorischen Behandlung der Themen Natur, Jugend und Vergänglichkeit. Trost findet der Leser in der Betrachtung, dass jeder Verlust, jede Veränderung einen tieferen Sinn hat und zu einer natürlichen Ordnung gehört. Die verwendeten Metaphern verdeutlichen zudem eindrucksvoll das Thema und die Botschaft des Gedichts: Die Schönheit der Natur und ihre Transformationen sind ein Spiegelbild des Lebens selbst.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Blütenfülle“ des Autors Karl Bartsch. 1832 wurde Bartsch in Sprottau geboren. In der Zeit von 1848 bis 1888 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 62 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 438 Worte. Zum Autor des Gedichtes „Blütenfülle“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.

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