Goethe, Johann Wolfgang von - Der Erlkönig (Interpretation der Ballade)

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Gedichtanalyse, Johann Wolfgang von Goethe, Gedichtinterpretation, Referat, Hausaufgabe, Goethe, Johann Wolfgang von - Der Erlkönig (Interpretation der Ballade)
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Referat

Interpretation der Ballade „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe

Erlkönig
von Johann Wolfgang von Goethe

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
 
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron' und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
 
"Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
10 
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir;
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manch bunte Blumen sind an dem Strand,
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meine Mutter hat manch gülden Gewand."
 
13 
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
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was Erlenkönig mir leise verspricht?
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Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind:
16 
In dürren Blättern säuselt der Wind.
 
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"Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
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Meine Töchter sollen dich warten schön;
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meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
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und wiegen und tanzen und singen dich ein."
 
21 
Mein Vater, mein Vater und siehst du nicht dort
22 
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?
23 
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau:
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Es scheinen die alten Weiden so grau.
 
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"Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
26 
und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
27 
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
28 
Erlkönig hat mir ein Leids getan!
 
29 
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
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er hält in den Armen das ächzende Kind,
31 
erreicht den Hof mit Mühe und Not;
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in seinen Armen das Kind war tot.

(„Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (26.3 KB) zur Unterstützung an.)

Einleitung

Johann Wolfgang von Goethe veröffentlichte im Jahr 1782 die Ballade „Der Erlkönig“, eines seiner bekanntesten Gedichte aus der Epoche des Sturm und Drang​. In diesem Gedicht, das formal eine Ballade ist, geht es zentral um die Begegnung eines Vaters und seines jungen Sohnes mit einer geheimnisvollen, bedrohlichen Gestalt in einer dunklen Nacht. Die Ballade thematisiert Angst, Natur und das Übernatürliche: Ein Vater reitet nachts mit seinem kranken Sohn durch den Wald, während das Kind glaubt, einen unheimlichen Naturgeist – den Erlkönig – zu sehen, der es locken will​. Diese Spannung zwischen der rationalen Sicht des Vaters und der übersinnlichen Wahrnehmung des Kindes bildet den Kern des Geschehens, das schließlich tragisch mit dem Tod des Kindes endet​.

Hauptteil

Inhaltsangabe

In einer stürmischen, dunklen Nacht reitet ein Vater mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm hastig durch einen Wald​. Das Kind ist ängstlich und glaubt, im Dunkel die Gestalt des Erlkönigs mit Krone und Schweif zu erkennen​. Der besorgte Vater versucht seinen Sohn zu beruhigen und erklärt die vermeintliche Erscheinung natürlich-rational: Es sei nur ein vorbeiziehender Nebelstreif im Wind​. Doch der Junge hört die Stimme des Erlkönigs, der ihm schmeichelnd zuflüstert und ihn mit verlockenden Angeboten in sein Reich ziehen will. Der Erlkönig verspricht dem Kind schöne Spiele, bunte Blumen am Ufer und goldene Gewänder seiner Mutter, um es zu ködern​. Immer wieder ruft der verängstigte Sohn seinem Vater zu und warnt vor den vernehmbaren Flüstereien und Gestalten – so etwa vor den Töchtern des Erlkönigs, die er im Dunkeln tanzen sieht​. Der Vater jedoch bleibt bei seiner rationalen Deutung und erklärt alles als natürliche Phänomene wie den Wind, der in dürren Blättern raschelt, oder graue Weiden, die im Dunkeln schimmern​. Während der Ritt weitergeht, wird der Erlkönig zunehmend dringlicher und bedrohlicher. Schließlich schlägt seine Stimme in offenen Zorn um: Er erklärt dem Jungen, dass er ihn notfalls mit Gewalt mitnehmen werde, wenn dieser nicht willig folgt. Im selben Moment schreit der Sohn in Todesangst, der Erlkönig habe ihn gepackt und ihm weh getan​. Der Vater erschrickt nun selbst („Dem Vater grauset’s“), treibt sein Pferd verzweifelt zu höchster Eile an und erreicht mit Mühe den Hof – doch als er ankommt, hält er nur noch den leblosen Körper seines Kindes im Arm​. Die Ballade endet mit der schockierenden Feststellung: „In seinen Armen das Kind war tot.“

Formale Analyse

Goethes „Erlkönig“ ist formal streng gegliedert. Das Gedicht besteht aus acht Strophen mit jeweils vier Versen, insgesamt also 32 Verse​. Auffällig ist das durchgängige Reimschema: Jede Strophe weist Paarreime auf (Schema aabb), sodass jeweils zwei aufeinanderfolgende Verse sich reimen​. Diese Paarreim-Struktur unterstreicht den dialogartigen Charakter der Ballade​. Interessant ist dabei, wie die Reime die Sprecher verbinden oder trennen: Zu Beginn reimen sich die Frage des Vaters und die Antwort des Sohnes unmittelbar aufeinander, wodurch beide Stimmen in einem Paarreim vereint sind (z.B. Vers 5–6)​. Im Laufe des Gedichts jedoch ändert sich dieses Muster – Vater und Sohn sprechen in getrennten Paarreimen, was sich formal in der Trennung ihrer Reime zeigt​. So erhält der Junge auf seinen verzweifelten Ausruf in der vorletzten Strophe („Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! / Erlkönig hat mir ein Leids getan!“, V. 27–28) keine Antwort des Vaters mehr​. Die Trennung im Reimschema spiegelt also wider, wie Vater und Sohn im Verlauf der Handlung immer weiter auseinandergerissen werden und der Vater das Kind letztlich nicht mehr schützen kann​.

Auch das Metrum (Versmaß) trägt zur Wirkung bei. Es ist im „Erlkönig“ unregelmäßig; innerhalb der Verse wechseln sich Jamben (unbetont – betont) und Anapäste (unbetont – unbetont – betont) ab​. Diese wechselnden Taktarten erzeugen einen bewegten, unruhigen Rhythmus, der die Atmosphäre der angstvollen nächtlichen Reise spürbar macht. Die Unbeständigkeit des Metrums verstärkt insbesondere die Unruhe und Angst des Sohnes​. An einigen Stellen passt das Versmaß sich dem Inhalt an: So ist etwa Vers 8 („Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif“) ein reiner Jambus, der mit seinem gleichmäßigen da-DUM-Rhythmus die beruhigende Stimme des Vaters unterstreicht​. Demgegenüber schaffen anapästische Passagen – da-da-DUM – eine beschleunigte, drängende Bewegung. Sie lassen die Hufschläge des galoppierenden Pferdes und die Dringlichkeit der Situation förmlich im Klang der Verse miterleben​. Am Ende des Gedichts erfolgt noch ein bemerkenswerter Tempuswechsel: Nach der direkten Rede steht der letzte Vers plötzlich im Präteritum („war tot“), wodurch der Tod des Kindes wie ein endgültiger, unvermittelter Schlussakkord wirkt​. Dieser Wechsel ins Vergangene betont die Unausweichlichkeit des tragischen Ausgangs.

Sprache und Stilmittel

Auffällig an Goethes Ballade ist die lebendige Sprache, die durch direkte Rede und diverse sprachliche Bilder gekennzeichnet ist. Das Gedicht ist fast vollständig in Dialogform verfasst: Erzählerische Verse wechseln mit den wörtlichen Äußerungen des Vaters, des Sohnes und des Erlkönigs. Diese Dialogstruktur macht das Geschehen sehr unmittelbar und dramatisch erlebbar, fast wie eine kleine Theaterszene. Der Vater spricht in kurzen, beruhigenden Sätzen zu seinem Sohn, während der Junge mit wiederholten Hilferufen reagiert. Der Erlkönig wiederum redet verlockend und poetisch auf das Kind ein, bis seine Sprache schließlich drohend wird. Durch diese wechselnden Stimmen entsteht im Gedicht eine spannungsvolle Dynamik.

Ein wichtiges Stilmittel im „Erlkönig“ ist die Wiederholung. Insbesondere findet Goethe starke Worte, um die zunehmende Verzweiflung von Vater und Sohn hervorzuheben: die Geminatio, also die Verdopplung von Wörtern, wird hier eingesetzt. So ruft der Junge mehrmals „Mein Vater, mein Vater…“ und der Vater antwortet ebenso mit „Mein Sohn, mein Sohn…“. Zum Beispiel fleht der Sohn in Vers 21: „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort…“, worauf der Vater in Vers 23 antwortet: „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau…“​. Diese eindringlichen Dopplungen betonen die Dringlichkeit des Hilferufs des Kindes und zugleich den angespannten, verzweifelten Versuch des Vaters, sein Kind zu beruhigen​. Auch weitere Anaphern – Wiederholungen am Versanfang – sind zu finden. Gleich in der ersten Strophe etwa beginnt Vers 3 und 4 mit „Er“: „Er hat den Knaben wohl in dem Arm, / Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.“​. Durch diese Anapher wird die fürsorgliche Haltung des Vaters hervorgehoben, der sein Kind fest umklammert hält; die Wiederholung des Pronomens „Er“ betont hier die schützende Nähe zwischen Vater und Sohn​.

Goethe setzt zudem bildhafte Sprache und Personifikationen ein, um die unheimliche Stimmung zu verstärken. Der Erlkönig selbst ist eine Personifikation – er verkörpert ein naturmagisches Wesen, einen König der Elfen oder der Erlen (dazu mehr im Hintergrund) – und tritt mit menschlicher Stimme und Absicht auf. Auch die Natur wird mit menschlichen Eigenschaften versehen: „In dürren Blättern säuselt der Wind“ (V. 16) heißt es, womit der Wind als flüsternder Akteur dargestellt wird​. Solche Personifikationen verleihen der Umgebung etwas Lebendiges und Unheimliches. Aus Sicht des Kindes scheint die ganze Natur beseelt und bedrohlich zu sein – Bäume und Wind werden zu Komplizen des Erlkönigs. Interessanterweise greift selbst der Vater in seinen Beruhigungsversuchen auf poetische Bilder zurück: Wenn er sagt, „In dürren Blättern säuselt der Wind“, nutzt er ebenfalls eine Vermenschlichung der Natur​. Obwohl er rational erklären will, klingt seine Sprache dadurch unwillkürlich geheimnisvoll. Neben Personifikationen finden sich auch anschauliche Details und Sinnesreize: Der Erlkönig lockt mit „manch bunte Blumen“ und „gülden Gewand“, malt also schillernde Farben und Pracht aus, um das Kind zu verführen​. Solche Beschreibungen sprechen die Vorstellungskraft an und kontrastieren mit der dunklen, kalten Nacht, in der der Ritt stattfindet. Schließlich schlägt die Sprache des Erlkönigs vom sanften Werben ins Drohende um: „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“​ – diese drastische Ankündigung von Gewalt markiert sprachlich den Höhepunkt der Bedrohung. Insgesamt trägt die Sprache – durch Dialoge, Wiederholungen und Bilder – wesentlich dazu bei, die Spannung und Atmosphäre der Ballade aufzubauen.

Figuren und ihre Funktion

In „Der Erlkönig“ treten drei Hauptfiguren auf: Vater, Sohn und Erlkönig. Der Vater wird als besorgte und schützende Figur dargestellt. Gleich zu Beginn heißt es, er halte den Knaben wohl und sicher im Arm, warm eingehüllt​. Er verkörpert Vernunft und Sicherheit – während der ganzen Fahrt versucht er ruhig zu bleiben und jede furchteinflößende Wahrnehmung seines Sohnes mit logischen Erklärungen abzutun („es ist ein Nebelstreif“, „in dürren Blättern säuselt der Wind“, „es scheinen die alten Weiden“). Seine Rolle ist die des Beschützers, aber auch des Skeptikers: Er sieht (oder will) die übernatürliche Gefahr nicht erkennen. Der Vater steht damit symbolisch für einen aufgeklärten, rational denkenden Menschen, der die Natur wissenschaftlich und vernünftig deutet​. Er wirkt liebevoll und mutig – er durchquert trotz des Unwetters die Nacht, um sein Kind in Sicherheit zu bringen – ist jedoch letztlich machtlos gegenüber dem Unfassbaren. In manchen künstlerischen Darstellungen, wie dem obigen Fresko von Carl Gottlieb Peschel (1838), sieht man den Vater hoch zu Ross, mit entschlossenem Blick, den Sohn schützend im Arm haltend, während die geisterhafte Gestalt des Erlkönigs über ihnen schwebt. Diese Visualisierung betont die beschützende Haltung des Vaters, aber auch, wie die übernatürliche Bedrohung das Kind umgibt und der Vater sie doch nicht abwenden kann.

Der Sohn ist ein kleiner Junge, schwach genug, dass der Vater ihn tragen muss, und offenbar krank oder empfindsam (im Text heißt es „kranker Sohn“​). Er hat eine blühende Fantasie oder besondere Wahrnehmungsgabe: Er allein sieht und hört den Erlkönig und dessen Töchter, was den Vater ratlos zurücklässt. Das Kind verkörpert Unschuld und Verletzlichkeit, aber auch die Empfänglichkeit für das Übersinnliche. Immer wieder äußert es seine Angst unmittelbar: Der Sohn spricht den Vater verzweifelt an, klammert sich an ihn und berichtet von den unheimlichen Eindrücken, die er hat. Seine steigende Panik treibt die Handlung voran – je mehr der Erlkönig ihn umgarnt, desto drängender werden die Hilferufe des Jungen. Symbolisch kann der Sohn für die Vorstellungskraft, Emotionalität und Naturverbundenheit stehen, wie sie im Sturm und Drang geschätzt wurden. Tatsächlich lässt sich der Junge in einigen Interpretationen dem Geist des Sturm und Drang zuordnen: Er ist offen für die Magie der Natur und spürt Dinge, die rational nicht fassbar sind​. Der tragische Tod des Kindes am Ende macht ihn zum Opfer der unheimlichen Mächte – er repräsentiert somit auch die Hilflosigkeit des Menschen (insbesondere des Kindes) angesichts übermächtiger Kräfte.

Der Erlkönig selbst ist die rätselhafteste Figur. Er erscheint im Gedicht nicht als greifbare Person, die der Vater sehen könnte, sondern als eine visionäre Gestalt, die zum Sohn spricht und möglicherweise nur in dessen Vorstellung existiert. Goethe schildert den Erlkönig als eine Art Naturgeist oder übernatürlicher König, der in der Finsternis des Waldes haust. Seinem Namen nach handelt es sich um einen „Erl(en)könig“ – dies geht auf einen übersetzten dänischen Sagenstoff zurück, in dem eigentlich ein Elfenkönig gemeint war​. Der Erlkönig trägt in der Vorstellung des Kindes eine Krone und einen langen Schweif, was ihn wie einen Märchenkönig aussehen lässt, und er spricht mit verführerischer Freundlichkeit. Seine Funktion im Gedicht ist die des Verführers und Antagonisten: Er lockt das Kind zunächst sanft („Du liebes Kind, komm, geh mit mir…“), bietet Spiele und Geschenke an, um dessen Vertrauen zu gewinnen. Doch als das Kind nicht folgt, zeigt der Erlkönig sein wahres Wesen – er wird bedrohlich, aggressiv und greift am Ende gewaltsam zu. Hier wird deutlich, dass der Erlkönig eine Verkörperung des Bösen oder Destruktiven ist, sei es nun als personifizierter Tod oder als gefährliche Naturmacht. In ihm bündelt sich die unheimliche Seite der Nacht und der Natur. Man kann den Erlkönig als Symbol für den Tod lesen, der unschuldige Kinder hinwegrafft – dies legt insbesondere das Ende nahe, als das Kind tot ankommt. Oder man sieht in ihm die Macht der Einbildungskraft: eine Halluzination des fiebernden Kindes, die so stark wird, dass sie tödlich endet. In jedem Fall steht der Erlkönig für etwas, das außerhalb der rationalen Welt des Vaters liegt. Goethe hat mit dieser Figur eine eindringliche Allegorie geschaffen: Der Erlkönig verkörpert die Gefahr, die in der Natur und dem Übersinnlichen lauert, und die Faszination sowie das Grauen, das davon ausgeht.

Deutung

Die Ballade „Der Erlkönig“ lässt sich auf verschiedenen Ebenen deuten. Im Vordergrund steht der Konflikt zwischen Rationalität und Übersinnlichem. Der Vater als Vertreter der Vernunft und Aufklärung trifft auf ein Phänomen – den Erlkönig – das sich seiner Logik entzieht. Seine rationalen Erklärungen reichen nicht aus, um die Gefahr abzuwenden. Diese Dichotomie kann man als allegorischen Generationen- oder Epochenkonflikt interpretieren: Der Vater verkörpert die Werte der Aufklärung – Vernunft, Logik, Skepsis – während der Sohn die Sturm-und-Drang-Natur repräsentiert, also Empfindsamkeit, Leidenschaft und Glauben an das Wunderbare​. So gelesen, spiegelt das Gedicht den Übergang der Epochen wider, in dem die kühle Rationalität an ihre Grenzen stößt, wenn sie mit der wild-romantischen Natur konfrontiert wird. Das Kind ist empfänglich für die „Magie der Natur“​, der Vater hingegen versucht, diese Magie zu leugnen – am Ende setzt sich die unerbittliche Kraft der Natur (oder des Todes) durch.

Auch psychologisch kann man den Erlkönig deuten. Möglicherweise leidet das Kind an hohem Fieber und halluziniert; der Erlkönig wäre dann ein Fiebertraum, der die nahende Todesgefahr ankündigt. Der Vater steht hilflos daneben, unfähig, die innere Realität seines Sohnes nachzuvollziehen oder ihn aus seinem Alptraum zu befreien. Das Gedicht zeigt somit auch die Ohnmacht der Eltern, die ihre Kinder nicht vor allem beschützen können – eine sehr menschliche Tragik. Die Kommunikation bricht am Ende ganz ab (der Vater kann den Sohn nicht mehr erreichen), was das Ausgeliefertsein des Individuums an sein Schicksal unterstreicht. Die Natur in Gestalt des Erlkönigs erweist sich als übermächtige, doppeldeutige Kraft: Einerseits verführerisch-schön (Blumen, Gewänder, Tänze), andererseits gnadenlos und tödlich. Diese Ambivalenz macht den Reiz und Schrecken des Gedichts aus.

Goethes eigene Botschaft könnte darin liegen, den Leser mit jener unheimlichen Seite der Natur und der Grenze der menschlichen Vernunft zu konfrontieren. Trotz all des Fortschritts und Mutes gibt es Dinge, die der Mensch nicht kontrollieren kann – hier verkörpert im mysteriösen Erlkönig. Zugleich ist es ein Gedicht über Angst: die kindliche Angst, die ernst genommen werden will, und die vielleicht zu Recht besteht. Der Autor lässt offen, ob der Erlkönig „wirklich“ existiert oder nicht. Gerade diese Mehrdeutigkeit macht die Ballade so spannend und lädt zu Interpretationen ein: Ist es eine Mahnung, die Warnungen der Schwächsten (hier des Kindes) nicht zu ignorieren? Oder eine allgemeine Aussage über die Unausweichlichkeit des Todes, der plötzlich und unerklärlich kommen kann?

Schluss

Zusammenfassend zeigt Goethes „Der Erlkönig“ in sachlicher, klarer Sprache und dramatischer Balladenform das unerbittliche Ringen zwischen Vernunft und irrationaler Macht. Die Interpretation legt nahe, dass Goethe die Begrenztheit menschlicher Kontrolle darstellen wollte: Weder die väterliche Fürsorge noch rationales Beschwichtigen können das Schicksal des Kindes verhindern. Die eindringliche Verwendung von Dialog, Rhythmus und Bildern schafft eine Atmosphäre steigender Spannung, die in der Katastrophe kulminiert. Am Ende steht eine bittere Erkenntnis: Es gibt in der Welt – seien es natürliche Gewalten oder das personifizierte Böse – Kräfte, vor denen der Mensch kapitulieren muss.

Literarisch lässt sich die Ballade in den historischen Kontext des späten 18. Jahrhunderts einordnen. Sie entstand zur Zeit des Sturm und Drang, einer Epoche, in der starke Gefühle und die Naturverehrung im Mittelpunkt standen​. Anders als viele Sturm-und-Drang-Dichtungen, die oft Liebesthematik behandeln, widmet sich Goethe hier der magischen, unheimlichen Natur. Man spricht deshalb auch von einer naturmagischen Ballade​. Goethe betrat mit diesem Stoff Neuland, denn die meisten Balladen seiner Zeitgenossen hatten nicht diese Art von Schauerelementen​. Diese innovativen Züge wurden wegweisend für die nachfolgende Romantik, in der Dichter wie Novalis solche naturmagischen Themen weiterentwickelten​. Interessant ist, dass Goethe sich von alten Volksliedern inspirieren ließ: Der Erlkönig-Stoff stammt aus einer dänischen Sage, die Johann Gottfried Herder übersetzt hatte („Erlkönigs Tochter“, 1779)​. Goethe greift also auf die mündliche Überlieferung zurück und erhebt sie in den Stand hoher Literatur – ein typisches Vorgehen im Sturm und Drang, der das Volksliedgut schätzte. Die Wirkung der Ballade war und ist enorm: Sie wurde vielfach rezipiert und gehört bis heute zum Bildungskanon. Auch in der Musik fand sie einen festen Platz – berühmt ist vor allem die Vertonung von Franz Schubert (1815), die die gespenstische Stimmung der Vorlage eindrucksvoll in Klänge fasst​. Insgesamt steht „Der Erlkönig“ als zeitloses Beispiel dafür, wie Dichtung die Grenzen zwischen realer Welt und dichterischer Fantasie verwischen kann. Die Ballade verbindet den volkstümlichen Mythos mit dichterischer Kunstfertigkeit und fordert die Leser dazu auf, sich mit den Urängsten des Menschen auseinanderzusetzen. So ist Goethes „Erlkönig“ sowohl ein Kind seiner Zeit – Spiegel des Konflikts zwischen Aufklärung und empfindsamer Naturverehrung – als auch ein Werk von bleibender universeller Aussagekraft über Angst, Liebe und Tod.

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