Zwei Seelen von Kurt Tucholsky

Ich, Herr Tiger, bestehe zu meinem Heil
aus einem Oberteil und einem Unterteil.
 
Das Oberteil fühlt seine bescheidene Kleinheit,
ihm ist nur wohl in völliger Reinheit;
es ist tapfer, wahr, anständig und
bis in seine tiefste Tiefen klar und gesund.
Das Oberteil ist auch durchaus befugt, Ratschläge zu erteilen
und die Verbrechen von andern Oberteilen
zu geißeln – es darf sich über die Menschen lustig machen,
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und wenn andre den Naseninhalt hochziehn, darf es lachen.
 
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Soweit das.
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Aber, Dunnerkeil,
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das Unterteil!
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Feige, unentschlossen, heuchlerisch, wollüstig und verlogen;
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zu den pfinstersten Pfreuden des Pfleisches fühlt es sich hingezogen –
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dabei dumpf, kalt, zwergig, ein greuliches
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pessimistisches Ding: etwas ganz und gar Abscheuliches.
 
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Nun wäre aber auch einer denkbar - sehr bemerkenswert! –,
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der umgekehrt.
 
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Der in seinen untern Teilen nichts zu scheuen hätte,
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keinen seiner diesbezüglichen Schritte zu bereuen hätte –
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ein sauberes Triebwesen, ein ganzer Mann und
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bis in seine tiefsten Tiefen klar und gesund.
 
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Und es wäre zu denken, daß er am gleichen Skelette
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eine Seele mit Maukbeene hätte.
 
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Was er nur andenkt, wird faulig-verschmiert;
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sein Verstand läuft nie offen, sondern stets maskiert;
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sogar wenn er lügt, lügt er; glaubt sich nichts, redet sichs aber ein –
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und ist oben herum überhaupt ein Schwein.
 
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Vor solchem Menschen müssen ja alle, die ihn begucken,
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vor Ekel mitten in die nächste Gosse spucken!
 
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Da striche auch ich mein doppelkollriges Kinn
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und betete ergriffen: „Ich danke dir, Gott, daß ich bin, wie ich bin!“
 
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Was aber Menschen aus einem Gusse betrifft in der schönsten der Welten –:
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der Fall ist äußerst selten.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Zwei Seelen“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
254
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Zwei Seelen“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst. Tucholsky lebte von 1890 bis 1935 und war ein bekannter deutscher Journalist und Satiriker der Weimarer Republik. Seine Werke sind oft politisch und gesellschaftskritisch.

Das Gedicht „Zwei Seelen“ hinterlässt aufgrund seiner Provokation und dem Aussprechen von Unschönen einen starken Eindruck. Es lässt sich eine scharfe Beobachtung und Kritik der menschlichen Natur erkennen.

Der Inhalt des Gedichtes dreht sich um eine Person und dessen moralische Zweiteilung in Ober- und Unterteil. Das Oberteil, symbolisch für den Kopf oder den Verstand, ist klar und gesund, während das Unterteil, das für die körperlichen Triebhaftigkeiten steht, als abscheulich und verlogen dargestellt wird. Tucholsky spielt mit der Vorstellung, dass auch der umgekehrte Fall vorstellbar wäre und der geistige Teil sich verderbt, während der körperliche Teil rein bleibt. Jedoch betont er abschließend, dass solche einheitlichen Menschen außerordentlich selten sind.

Mit diesem Gedicht greift Tucholsky den dualistischen Gedanken von Körper und Seele auf und thematisiert die Doppelmoral in der menschlichen Natur. Die energischen Ausdrücke und überspitzten Formulierungen lassen auf seine Satire und seine Unzufriedenheit mit den heuchlerischen Tendenzen der Gesellschaft schließen.

In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichts lässt sich sagen, dass Tucholsky eine klare und direkte Sprache verwendet. Die Versmaße sind teilweise unregelmäßig und das Reimschema ändert sich von Strophe zu Strophe. Mit Wortspielen und überraschenden Wendungen hält Tucholsky den Leser bei Laune und schafft es, trotz des ernsten Themas eine humorvolle Atmosphäre zu schaffen.

Zusammenfassend ist „Zwei Seelen“ ein satirisches und gesellschaftskritisches Gedicht, indem Tucholsky die Widersprüchlichkeiten des menschlichen Wesens mit pointierten Formulierungen und einer klaren, direkten Sprache herausstellt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Zwei Seelen“ des Autors Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. 1929 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die wichtigsten geschichtlichen Einflüsse auf die Literatur der Weimarer Republik waren der Erste Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 andauerte, und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von distanzierter Betrachtung der Welt und Nüchternheit gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine alltägliche Sprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland ins Ausland. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das vorliegende Gedicht umfasst 254 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 35 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „All people on board!“, „Also wat nu – ja oder ja?“ und „An Lukianos“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zwei Seelen“ weitere 136 Gedichte vor.

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