Zum Trost von Rudolf Lavant

So oft ich noch zu Büchern der Geschichte
Geflüchtet mich in stiller, tiefer Nacht,
Der ernsten Sammlung tragischer Gedichte,
Wie sie kein Träumer brennender erdacht,
Hab’ ich die Blätter umgewandt mit Beben
Und scheu geschlossen das gewicht’ge Buch,
Und mir gesagt: „In jener Zeit zu leben,
War Tod und Grauen, stumme Qual und Fluch!“
 
Und wieder dann, gewaltig angezogen,
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Gerührt, begeistert und zum Kampf gefeit,
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Hab ich die Blätter ungestüm durchflogen,
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Die mir erzählt von einer großen Zeit.
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Vom Sieg gekrönt sah ich ein treues Streben,
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Die Ketten brachen, Mauern stürzten ein;
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Da sagt’ ich mir: „In solcher Zeit zu leben,
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Muß wunderbar, muß eine Wonne sein.“
 
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Wie dumpf und schal, wie flach und geistverlassen,
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Wie klanglos bleiern und doch eisenhart
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Erschien mir dann das Treiben auf den Gassen,
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Die ganze arme, karge Gegenwart!
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Wenn matt und träg’ der Menschheit Pulse schlagen,
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Als wage nie sie wieder rasche Fahrt,
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Lebt in vergangnen nur und künft’gen Tagen,
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Wer sich ein freies Mannesherz bewahrt.
 
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Dein Bett umschwebt in mitternächt’ger Stunde
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Der Bannerträger auserwählte Schaar,
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In Brust und Stirn die heil’ge Todeswunde
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Und naß von Blut der Schläfen greises Haar;
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Vom Rad zerbrochen und zermalmt die Rippen,
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An die das Herz so ungeduldig schlug,
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Und doch ein stolzes Lächeln auf den Lippen
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Und um den Mund den Ueberwinderzug!
 
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Dann murrst du wohl: „Und soll ich stumm vergehen
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In dieser Tage dumpfem Moderduft?
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Soll nie mein Fuß auf Felsenzinnen stehen,
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Soll nie ich athmen reine Höhenluft?
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Sie durften doch in ewig-schönen Tagen
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Dem Sturme bieten die entblößte Brust,
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Das Leben jauchzend in die Schanze schlagen
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Und noch im Tode schlürfen Werdelust.“
 
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Und doch, wie nahe auch verwandt der andern,
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Mit der im Geist zu Kampf und Sieg du fliegst,
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Mußt du in Treue deine Zeit durchwandern
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Und bist nicht treu, wenn mürrisch ab du biegst.
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Sieh um dich her und nicht blos auf die Todten,
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Die das Geschick zu schönrem Tod geweiht;
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Du wurzelst doch in deiner Heimath Boden,
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Du wurzelst doch zunächst in deiner Zeit!
 
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Wohl ist es schön, im Sturm ein Ziel erreichen,
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Das Tausende vor dir umsonst begehrt;
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In kleiner Zeit nicht einen Fuß breit weichen –
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Ist es drum minder eines Kranzes werth?
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Hast du verdient, in großer Zeit zu leben,
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Dann sei getrost und stolz und murre nicht;
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Die Tage wechseln – ewig ist das Streben;
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Sei nur getreu und thue deine Pflicht!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29 KB)

Details zum Gedicht „Zum Trost“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
396
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht „Zum Trost“ wurde von Rudolf Lavant verfasst, einem Schriftsteller, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts lebte. Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht in sieben Strophen zu je acht Versen aufgebaut ist und von der Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit seiner Zeit und Geschichte handelt.

Inhaltlich schildert das lyrische Ich zunächst seine intensiven Erfahrungen beim Lesen geschichtlicher Werke (Strophen 1 und 2). Während es in der ersten Strophe historische Ereignisse als erschütternd und oft tragisch erfährt, sieht es in der zweiten Strophe auch die heldenhaften und begeisternden Seiten der Geschichte. Die Gegenwart empfindet das lyrische Ich jedoch als geistlos und eintönig (Strophe 3). Es träumt von einer aktiveren, dramatischeren und intensiveren Zeit (Strophe 4 und 5). Das lyrische Ich wird dann ermahnt, seine eigene Zeit zu akzeptieren und loyal zu ihr zu sein (Strophe 6). In der abschließenden Strophe 7 wird ein versöhnlicher Ton angeschlagen - es ist die Botschaft, dass jede Zeit ihre ganz eigenen Herausforderungen und somit auch ihre eigene Bedeutung hat.

Die Sprache des Gedichts ist bildhaft und emotional, insbesondere bei den Beschreibungen historischer Ereignisse und des Unwohlseins des lyrischen Ichs in der eigenen Zeit. Die jeweils acht Verse pro Strophe und die regelmäßige, strenge Struktur verleihen dem Gedicht eine gewisse Ernsthaftigkeit und Schwere, was das Thema der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart unterstreicht. Die Botschaft des Gedichts scheint zu sein, dass jede Zeit ihre eigene Bedeutung und ihren Wert hat und dass es wichtig ist, loyal zu seiner eigenen Zeit zu stehen und seine Pflichten zu erfüllen, auch wenn die Umstände nicht immer ideal sind.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Zum Trost“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rudolf Lavant. Der Autor Rudolf Lavant wurde 1844 in Leipzig geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1893 entstanden. In Stuttgart ist der Text erschienen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 396 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rudolf Lavant sind „An la belle France.“, „Bekenntnis“ und „Das Jahr“. Zum Autor des Gedichtes „Zum Trost“ haben wir auf abi-pur.de weitere 96 Gedichte veröffentlicht.

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