Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen von Joachim Ringelnatz

Bloß weil ich nicht aus Preußen gebürtig.
Wo hab’ ich nur den Impfschein verloren?
Das lange Warten auf den Korridoren,
Das ist so un-, so unwürdig.
Wären wenigstens meine Haare geschoren.
Und den Durchfall habe ich auch.
Das geht mitten im Gespräch plötzlich eiskalt aus dem Bauch.
 
Als mich Miß Hedwin erkannte und rief,
Die hab’ ich vor Jahren, in Genf, einmal – versetzt.
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Nun sind meine Absätze schief.
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Und sie trug ein Reitkleid und fütterte Kücken.
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Aber ich darf mich nicht bücken.
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Denn meine – ach mein ganzes Herz ist zerfetzt.
 
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Ob ich gespeist habe?
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Ob mir die Hecke gefiele?
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Ja ich habe – gespeist. – (In Genf!
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Und zuletzt, vor drei Tagen, Semmel mit Senf)
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Und mich können alle Hecken
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Am Asche –.
 
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Vergessen sei Genf, vergessen die ganze Schweiz!
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Dürfte ich nur noch einmal in Seifhennersdorf oder Zeitz
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Steine klopfen.
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Ach! – ich möchte jenem verdammten
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Stellenvermittlungsbeamten
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Siebzehn Legitimationspapiere meines Großvaters mütterlicherseits
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In den Rachen stopfen!
 
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Auch hat mich vorübergehend durchzuckt:
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Ich wollte sterben nach einer grellen Raketentat.
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Ich habe Lysol und einen Drillbohrer verschluckt.
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Ich sandte ein Kuvert an den Hamburger Senat;
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In das Kuvert hatte ich kräftig gespuckt.
 
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Aber niemand glaubt an den Dreck.
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Nun ist meine Seife weg;
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Irgend jemand stöbert in meinen Taschen. –
 
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Ich kann mir doch nicht
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Das Gesicht
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Mit einem Bouillonwürfel waschen.
 
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Nun warte ich auf gigantisches Weltgeschehn.
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Wenn’s mich – zusammen mit den andern – zerfleischt,
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Wenn das Sterben der anderen, Glücklichen mich umkreischt,
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– Dann –
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Dann will ich mir eine Zigarette drehn!
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
245
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen“ ist von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettist, der zwischen 1883 und 1934 lebte. Er ist für seine humorvollen und teils absurden Gedichte bekannt.

Auf den ersten Blick ist das Gedicht voller Surrealismus und schwarzem Humor, wie es für Ringelnatz typisch war. Es scheint als würde ein tragisches Individuum sprechen, das gesellschaftlich entwurzelt und auf absurd dezente Weise abgekämpft und abgestumpft ist.

Inhaltsmäßig erzählt das Gedicht die Geschichte eines durchfallkranken Stellungslosen, der sich in einer kaum beneidenswerten Situation befindet und seine Hoffnungslosigkeit sowie Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Dabei spricht das lyrische Ich über seine Misslichen, stellt Fragen, die teilweise rhetorisch zu sein scheinen und kein spezifisches Gegenüber vermuten lassen. Es reflektiert unerfreuliche Auseinandersetzungen mit Behörden (Stellenvermittlungsbeamter) und persönliche Enttäuschungen.

In Bezug auf die Form des Gedichts können wir feststellen, dass das Gedicht in acht Strophen eingeteilt ist, allerdings ohne ein einheitliches Versmaß oder Reimschema. Die Zeilenzählung ist in jeder Strophe unterschiedlich.

Was die Sprache betrifft, so ist Ringelnatz bekannt für seine derben und teils absurden Ausdrucksweisen. Das merkt man auch in diesem Gedicht. Er verwendet einfache, alltägliche Sprache und verpackt osteuropäische Lokalnamen (Seifhennersdorf und Zeitz), persönliche Anekdoten und medizinische Details in einer befremdlich humorvollen Weise. Es gibt auch eine stark ironische Komponente - trotz der Misere, in der der Sprecher sich befindet, trägt er seine Situation mit einer stoischen und sogar komischen Resilienz. In manchen Stellen vermittelt der Kontext, insbesondere die ironischen und absurd humorvollen Aspekte, eine Satire auf die bürokratische Maschine und die Oberflächlichkeit der Gesellschaft.

Insgesamt ist das Gedicht ein typischer Ringelnatz-Text, der seinen surrealen, humorvollen Stil und seine gesellschaftskritischen Neigungen demonstriert.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen“ des Autors Joachim Ringelnatz. Im Jahr 1883 wurde Ringelnatz in Wurzen geboren. 1920 ist das Gedicht entstanden. München ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne oder Expressionismus zu. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 245 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 42 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „Abermals in Zwickau“, „Abgesehen von der Profitlüge“ und „Abglanz“. Zum Autor des Gedichtes „Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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