Moses von Marie Eugenie Delle Grazie

Noch flammt die Stirne dir von Sinai’s Wettern,
Noch weht um dich Jehovah’s myst’scher Hauch –
Da horch! metall’ner Becken gelles Schmettern –
Da sieh! das gold’ne Kalb, den Opferrauch,
Der schnöd gefall’nen Menschlein wüsten Reigen
Um’s Thier – ach, um ihr ewiges Symbol!
Zu ihnen wolltest du herniedersteigen,
Begeistert weltentrückt – des Gottes voll?
Für sie hast du die schlummerlosen Nächte
10 
Durchträumt? Für sie dein Antlitz bleich gehärmt?
11 
Für diese Brut rangst du des Himmels Mächte
12 
Hernieder? Für dies Aas hast du geschwärmt?
13 
Ihm wolltest du Prophet sein und Erretter,
14 
Ihm Weisheit bringen, die von Gott entstammt –
15 
Ihm? – hörst du nicht der Becken Hohngeschmetter,
16 
Den Schrei der Bestie, brünstig, wahnentflammt?
17 
Und seine Kiefer knirschen – in die Mähne
18 
Des Bartes wühlt sich die ergrimmte Hand,
19 
Die blutgeschwellte Ader wird zur Sehne
20 
Und Stein der Leib, den Wuth und Schmerz gebannt!
21 
Die mächt’ge Brust allein scheint auszuwogen,
22 
Und diese Brust, sie ringt nach einem Schrei –
23 
Ja, stoß ihn aus, Titan, den sie betrogen,
24 
Die Zwerge dort, auf daß er dich befrei’!
25 
Ein Sinai braus’ hernieder in Gewittern
26 
Und Gottes Tafeln – wirf sie unter sie!
27 
Denn würd’ger ist’s, ein göttlich Werk zersplittern,
28 
Als es beschmutzt, zertreten seh’n vom Vieh!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Moses“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
204
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht „Moses“ stammt von der österreichischen Schriftstellerin Marie Eugenie Delle Grazie, die zwischen 1864 und 1931 gelebt hat. Sie zählt zur Epoche des Naturalismus, der zwischen 1880 und 1900 seine Hochphase hatte.

Unser erster Eindruck ist, dass es sich um ein emotionales und intensives Gedicht handelt, das religiöse und existenzielle Themen anspricht. Es wirkt in seiner Intensität und Ausdrucksstärke beinahe dramatisch.

Im Inhalt des Gedichts geht es um die biblische Figur Moses, der enttäuscht und verärgert auf das Verhalten der Menschen blickt. Sie beten ein goldenes Kalb an, anstatt sich Gott zuzuwenden. Moses fühlt sich dadurch verraten und hintergangen, er ist voller Wut und Bitterkeit. Seine Enttäuschung ist so groß, dass er die Gottesgaben, symbolisiert durch die steinernen Tafeln, zerstören möchte, anstatt zuzusehen, wie die Menschen sie entweihen und entwerten.

In Hinsicht auf die Form, besteht das Gedicht aus 28 Versen, die in freien Rhythmen und ohne konsequente Reime arrangiert sind. Dies bringt eine gewisse Fließdynamik mit sich und unterstreicht die emotionale Ausdruckskraft des Gedichts.

Die Sprache ist bildhaft und symbolträchtig. Emotionen und Zustände werden durch körperliche Reaktionen und natürliche Phänomene veranschaulicht: „Noch flammt die Stirne dir von Sinai’s Wettern“, „Die blutgeschwellte Ader wird zur Sehne“ etc. Die Wortwahl ist anspruchsvoll und literarisch, zahlreiche bildliche Vergleiche und Alliterationen erhöhen den literarischen Wert des Gedichts und unterstreichen seine thematische Aussage.

Zusammenfassend handelt es sich bei dem Gedicht „Moses“ um ein intensives literarisches Werk, das auf die Enttäuschung und den Zorn einer religiösen Figur über das Verhalten der Menschen fokussiert. Es zeigt auf ergreifende Weise die zerstörerischen Kräfte von Verrat und Enttäuschung und regt zur Reflexion über die Versuchungen und Fehler der Menschheit an.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Moses“ ist Marie Eugenie Delle Grazie. 1864 wurde Delle Grazie in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. 1892 ist das Gedicht entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Bei Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 204 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 28 Versen. Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für das Gedicht „Apoll vom Belvedere“, „Arco naturale“ und „Atlantis“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Moses“ weitere 71 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Marie Eugenie Delle Grazie (Infos zum Autor)

Zum Autor Marie Eugenie Delle Grazie sind auf abi-pur.de 71 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.