Phallus von Max Dauthendey

Der Riese Zeit und das Mannweib Leben
Trafen sich heiß in der Juninacht.
Sie legten sich nieder am Berg in die Reben,
Hoch auf dem Berg standen die Sterne,
Hoch über den Sternen rauschte die Nacht.
 
Der Riese blass wie die fernen Gestirne,
Die Dirne warm, Wein brütet der Berg,
Auf mächtigen Brüsten stützt sie die Krüge,
Schwer mit dem dunkelsten Safte gefüllt.
 
10 
Sie trinkt und bietet zum Trunk dem Riesen,
11 
Beide schlürfen am steinernen Maul,
12 
Haupt an Haupt in der tönernen Höhle.
13 
Sie trinken, die Mitternacht beginnt zu ermatten,
14 
Sie trinken, die Sterne verschwinden im Berg,
15 
Dem blassen Riesen bricht bald die Kehle,
16 
Unversieglich strömt es vom Krugbauch.
17 
Hält inne endlich, Atem zu holen,
18 
Die Dirne lacht und hält ihm den Nacken,
19 
Feuer wuchern in seinem Fleisch.
20 
Er küsst ihr die Wangen, küsst ihr die Brüste,
21 
Küsst ihr die Brüste, küsst ihr die Wangen.
22 
Die Reben brennen, die Steine zerschmelzen,
23 
Riese und Mannweib biegen den Berg.
24 
Nachtwolken stehen tagfeurig und leuchten,
25 
Riese und Mannweib biegen den Erdball.
 
26 
Im breiten Lande pochen die Glocken,
27 
In nächtigen Städten die scheuen Menschen
28 
Stehen und starren, rot funkelt der Himmel,
29 
Rot in die Fenster, rot in die Tore,
30 
Glüht rot auf tausend ratlose Stirnen,
31 
Glüht rot in tausend schreckoffene Herzen.
 
32 
Neuntausend Jahre staunen die Menschen,
33 
Neuntausend Jahre Nächte um Nächte,
34 
Riese und Mannweib liegen am Berg,
35 
Im neunten Tausend loschen die Nächte,
36 
Phallus wurde geboren.
 
37 
Phallus lag sorglos im sorglosen Gras,
38 
Im Westen am Himmelsrand saß sein Vater,
39 
Der schüttet den Sommer über die Erde
40 
Oder die Kälte,
41 
Dann kommen und gehen auf Erden
42 
Alle Gedanken.
 
43 
Sonne nährt Phallus,
44 
Sie denkt auch für ihn.
45 
Wurzeln sprechen ihm Kräfte ins Ohr,
46 
Die Quellen und alle Metalle tief in der Erde
47 
Machen ihn stark.
 
48 
Herbst nässt den roten, brünstigen Wald,
49 
Phallus schreit mit den dampfenden Hirschen;
50 
Frühling treibt den Saft ins Gestämm,
51 
Phallus lacht mit dem buhlenden Waldhuhn.
 
52 
Phallus kannte die Mutter nie,
53 
Sie ließ ihn, wo sie ihn schmerzlos gebar.
54 
Der Vater blies Stürme über die Erde,
55 
Es lebten die letzten der alten Menschen.
 
56 
An großen Seen von salziger Säure,
57 
Gelagert an gleißenden Kupferbergen,
58 
In urfinstern Häusern von Kohle,
59 
Aber die Rausten hausten am Stein,
60 
Der rot ist vom Rost und rot ist vom Schweiß,
61 
Drunter tropft eisenbitter die Quelle.
 
62 
Phallus, der Nackte, schreitet vom Berg,
63 
Mannstark am Morgen, der ihn gebar.
64 
Sein Aug' gleich dem Brennglas
65 
Durchdringt sieben Häute,
66 
Nackt macht es die Menschen,
67 
Nackt bis zur Herzhaut.
 
68 
Am Flussufer lagern rauchige Wolken,
69 
Myriaden von Menschen in jeder Wolke,
70 
In heller Sonne nachtdunkel die Menschen.
 
71 
Phallus durchschreitet die finstere Menge.
72 
Vorbei an den nachtvollen Sorgengesichtern,
73 
Vorbei an den niemüden, gähnenden Gassen,
74 
Vorbei an den Reihen gespenstiger Häuser,
75 
Jeder Ziegel gebacken aus uraltem Staub,
76 
Staub der Ahnen, Eltern, Brüder,
77 
Voll Staub die Lungen und Nasenlöcher.
78 
Sie atmen alle tote Gedanken.
79 
Phallus durchschreitet die finstere Menge,
80 
Alle mit Sorgengarnen bekleidet,
81 
Keiner geht nackt.
 
82 
Wer wohnt dort im Gletscher,
83 
Der über den Meeren,
84 
Der über dem Rauch
85 
Mit eisigen Gipfeln, mit feurigen Flanken
86 
Ewig sonnig zur Sonne sich dreht?
 
87 
Dort im ewig sonnigen Pol,
88 
Mit kältenden Gipfeln und lüsternen Flanken,
89 
Über den Meeren, über dem Rauch,
90 
Wohnen die letzten Töchter der Menschen.
 
91 
In tödlichem Spiegel sind sie geboren,
92 
Sie haben den Spiegel niemals verlassen,
93 
Keine trat je aus seinem Glas,
94 
Niemand kam je zu ihnen hinein.
 
95 
Der Spiegel aus Eis blendet im Glanzsaal,
96 
Schmachtend am Spiegel liegen die Männer,
97 
Schmachtend zum Bild, das sie niemals erreichen,
98 
Sie sinken alle in zehrende Schwäche.
 
99 
Phallus der Nackte tritt in den Berg,
100 
Der über den Meeren, der über dem Rauch
101 
Mit eisigen Gipfeln und feurigen Flanken
102 
Ewig sonnig zur Sonne sich dreht.
 
103 
Leichen füllen die Treppen und Gänge.
104 
In Hallen und Sälen stockt Totenruh.
105 
Mit glasigen Augen, zerbrochener Stirn
106 
Liegen die besten der Männer am Spiegel,
107 
Dem Spiegel, der schmerzhaft und ungeheuer,
108 
Die höchste der Wände füllet im Glanzsaal.
 
109 
Phallus tritt auf die seufzende Schwelle,
110 
Wütend fliehen gefräßige Fliegen.
111 
Blank und bleich wie Kastanienblumen
112 
Liegen die Jungfraun im schmerzhaften Glas.
 
113 
"Ihr wohnt im sonnigsten Haus der Erde,
114 
Selber kommt ihr niemals zur Sonne."
115 
"Möchten gerne kommen zur Wärme,
116 
Wir dulden nicht, Wärme zu teilen mit Toren."
 
117 
"Sonne selber duldet die Toren,
118 
Töricht ist es, nicht Sonne zu teilen.
119 
Gähnt nicht im Spiegel und kommt zum Manne,
120 
Kommt zum Manne, ich will euch frein."
 
121 
"Nicht Stirn, nicht Faust brechen dies Glas,
122 
Kein Menschenherz schmelzt diesen Spiegel."
 
123 
Phallus tritt vom Eingang der Halle,
124 
Bricht mächtig mit Händen die Decke vom Saalbau.
 
125 
"So komme das Herz des Himmels zu euch."
126 
Sonne füllt breit den dachlosen Saal,
127 
Heißgereizt lodert der Spiegel.
 
128 
Lustige Kugeln, Silber und Eis.
129 
Hurtig schmilzt der Spiegel zu Tropfen,
130 
Frei in kühlem weitem Gemach
131 
Liegen die Jungfraun auf silberner Erde.
 
132 
Phallus tritt auf das kochende Eis,
133 
Da lachen die Frauen ein fernes Gelächter,
134 
Und lachend sind alle verschwunden.
 
135 
Phallus verbrennt die Sohlen und Hände,
136 
Er bückt sich nach Kieseln, beißt Steine zu Staub,
137 
Er lachte Feuer, er lachte Blut,
138 
Das weckt nur die Leichen der Männer.
139 
Augäpfel, wachsende, sehen ihn an,
140 
Herzen, von Fliegen zerfressen, erwachen,
141 
Die Männer sehen den machtbreiten Mann,
142 
Die Männer fliehen hinaus in den Rauch,
143 
Phallus steht schweigend bei seinem Schatten.
 
144 
Müde legte sich Phallus zum Gletscher,
145 
Der leuchtet brünstig und wird Vulkan.
 
146 
Die Männer unten im rauchigen Tal
147 
Bestaunen zitternd solch staunende Kraft,
148 
Sie wollen ihn töten am matten Morgen,
149 
Doch Phallus schläft tief in glühenden Wolken.
 
150 
In zweiter Nach schläft er bei einer Quelle,
151 
Die Quelle kocht verheerend ins Tal.
 
152 
In dritter Nacht stürzt er den Adler vom Horst
153 
Und schläft bei der Adlerin sieben Nächte.
 
154 
Nach neunter Nacht zwingt er die Schlangen zu Müttern,
155 
Und aufrecht gehen seitdem die Schlangen.
 
156 
In elfter Nacht jagt er die weiße Stute,
157 
Ihr wachsen Flügel, mit ihr besteigt er die Horizonte.
 
158 
Phallus schläft dreißigmal dreißig Jahre
159 
Im warmen Getümmel der warmen Erde,
160 
Aber am Ende geheiligter Zeit
161 
Wächst ihm von neuem nach nackten Menschen
162 
Die alte unabwendbare Sehnsucht.
 
163 
Er kehrt zu den dröhnenden Kupferbergen,
164 
Er kommt zu den rauchenden salzigen Seen,
165 
Er liegt ermüdet am rostigen Stein,
166 
Zum erstenmal trifft ihn einsam die Nacht,
167 
Denn kälter noch als der urkalte Raum
168 
Waren auf Erden die Menschen geworden,
169 
Der Himmel zog die Sonne zurück,
170 
Die Menschen im Tal vergaßen den Namen.
171 
Unten an der bittern Quelle
172 
Lagert das letzte Tausend der Männer.
 
173 
Phallus liegt auf den rostigen Bergen,
174 
Er wärmt die Adern des hohlen Steines.
175 
Tief in den Bergen schlafen die Frauen,
176 
Sie, die das Unsichtbarwerden erlernt.
177 
Sie dachten kaltblütig wie kältende Nacht,
178 
Sie fühlen erwachend die Steine erwärmt.
 
179 
"Mein Marmorkissen wird siedend lästig?"
180 
"Mir glühen enger und enger die Gürtel?"
181 
"Mir füllen sich seltsam üppig die Wangen?"
182 
"Mir brennen und pochen die Brüste?"
 
183 
"Wäre es Phallus, der so erhitzt?"
184 
"Kitzelnde Fäden sollten ihn fangen.
185 
Will seine Stirn als mein Diadem,
186 
Will seine Finger als beinernen Kamm,
187 
Will sein Schamhaar als Kissen zum Traum."
188 
"Aber nie nehmen wir Phallus zum Mann,
189 
Er würde uns zwingen, blutend zu dienen."
 
190 
Phallus hört durch den rostigen Stein
191 
Die Frauen, die wachen, im hohlen Berg.
 
192 
Da sitzt ein Knabe auf kühnem Berg,
193 
Sein Blick greift sicher die rollende Wolke.
194 
"Hast du auch Silber in deinen Gliedern?"
195 
Er fragt das Mädchen auf treibender Wolke.
 
196 
"Mein Vater ist Phallus, die Wolke die Mutter,
197 
Ich habe Silber in jedem Glied,
198 
Den Leib von Fleisch hat Phallus geschaffen."
199 
Stolz schüttelt das Mädchen sein schneeweißes Haar.
 
200 
"Mein Vater ist Phallus, die Adlerin Mutter,
201 
Ich habe Silber in jedem Glied,
202 
Den Leib von Fleisch hat Phallus geschaffen."
203 
Stolz schüttelt der Knabe die Adlerschwingen.
 
204 
"Rund um den Salzsee wachen die Feuer,
205 
Dort schlafen im Kreise die finsteren Menschen.
206 
Zeige am Feuer dein silbernes Blut,
207 
Dann will ich nur immer dich küssen." -
208 
Der Knabe führt die Wolke ins Tal.
 
209 
Phallus hält Rundschau:
210 
Die Eichentöchter wandeln im Wald,
211 
Bei ihnen buhlen die Söhne der Sturmfrau.
 
212 
Phallus hält Rundschau:
213 
Die Schwanentöchter liegen am Strand,
214 
Bei ihnen schmeicheln die Söhne der Robbe.
 
215 
Phallus hält Rundschau:
216 
Die Adlersöhne umkreisen die Wolken,
217 
In sieben Farben lächeln die Wolken.
 
218 
Phallus hält Rundschau:
219 
Im warmen Getümmel der warmen Erde
220 
Lieben sich alle, die Phallus geschaffen,
221 
All seine Geschöpfe mit silbernem Blut.
 
222 
An dem schlackigen urtrüben See
223 
Schlafen einsam die letzten Männer,
224 
In den eisigen hohlen Bergen
225 
Liegen einsam die Töchter der Menschen.
 
226 
Keiner der Männer im Tal geht nackt,
227 
Keine der Frauen im Berge geht nackt,
228 
Alle mit Sorgengarnen bekleidet;
229 
Sie haben nie einander gesehen.
 
230 
Phallus liegt auf dem Berg und horcht,
231 
Hilferuf stürzt herauf vom See,
232 
Über dem Haupt erstarren die Wolken.
 
233 
Der Adlerin Sohn, das Mädchen der Wolke,
234 
Von Menschen getötet, fallen am Ufer.
235 
Den Rumpfen enteilt das silberne Blut,
236 
Die Menschen fangen das klagende Silber.
 
237 
Menschen ohne Weisheit und Wärme,
238 
Die Menschheit verzehrt eine rächende Nacht.
239 
Phallus springt vom zitternden Berg,
240 
Unter ihm schreit die erschrockene Erde,
241 
Phallus schlägt zornig die zornheißen Zähne.
 
242 
Glut springt vom erbitterten Mund;
243 
Fliehen auch unsichtbar Männer und Frauen,
244 
Keiner enteilt sichtbarem Tod,
245 
Den letzten erschlägt der lohende Fluch;
246 
Die Menschheit verzehrt eine rächende Nacht.
 
247 
Stille wächst, es wachsen die Berge,
248 
Es wächst der Himmel ernst wie ein Stein
249 
Und deckt die Grüfte und Höhlen und Berge.
 
250 
Stille wächst, es wachsen die Meere,
251 
Die Wellen waschen die Asche im Tal,
252 
Die Erde wächst, die Erde ist nackt,
253 
Nackt steht die Erde und ohne Ränke.
 
254 
Phallus sieht auf die nackte Erde,
255 
Da fallen Tränen aus seinem Herzen,
256 
Sein Schluchzen schüttelt die Kerne der Erde:
 
257 
"Nun werde, Erde, zur klagenden Insel,
258 
Dein Stein sei von Schmerzen gebogen,
259 
Irr spricht der Himmel,
260 
Die Menschen verdarben,
261 
Kein Tod stillt die Leere."
 
262 
Phallus weint sechs Tage, sechs Nächte,
263 
Die Träne steht still am siebenten Tag,
264 
Und Phallus ruht auf verwitterter Erde.
 
265 
Erde spricht dir weisesten Rat,
266 
Höre, Phallus, Weisheit der Erde:
 
267 
Herzliche Wünsche lenken die Zukunft,
268 
Herzlicher Wunsch lenkt dir alle die Sonnen.
 
269 
Riesen walten im Feuer der Sonnen,
270 
Urlicht und Urklang.
271 
Urlicht und Urklang rollen die Sterne,
272 
Rollen die Erde.
 
273 
Sonnen und Sterne, Sterne und Erde dienen dem Urleib;
274 
Urleib der Sonnen, Sterne und Erde,
275 
Urleib dient Urherz.
 
276 
Erde spricht dir weisesten Rat,
277 
Höre, Phallus, Weisheit der Erde.
 
278 
Solange ich lebe, dien' ich dem Urherz,
279 
Solange ich lebe, bin ich sein Denken.
 
280 
Leben ist Herzlust, Leben ist Herzleid,
281 
Sekunden der Freude, Sekunden des Schmerzes,
282 
Alle vereint sind unendlich ein Leben.
283 
Herzlust und Herzleid sind Mosaik,
284 
Und wollen sich ordnen zum Körper des Friedens,
285 
Ordner ist Urherz, Urherz sind alle.
 
286 
Erde spricht dir weisesten Rat,
287 
Noch höre, Phallus, Weisheit der Erde.
 
288 
Keiner ist nur auf der Erde geboren.
289 
Es lebt jedes Leben mitten im Himmel.
290 
Sei weise, achte die Seelen des Himmels,
291 
Die Riesenbrüder, die Sonnen und Sterne.
 
292 
Die Riesengeschlechter sind große Quellen,
293 
Die großen Sterne sind große Quellen,
294 
Die großen Sonnen sind große Quellen,
295 
Ein Gott sind alle mit dir im Urherz.
296 
Keiner ist nur auf der Erde geboren,
297 
Herzlicher Wunsch macht zum Magneten,
298 
Herzliches Wünschen lenkt alle die Sonnen.
 
299 
Phallus steht unterm nächtigen Bogen
300 
Und blickt zur singenden Straße der Sterne,
301 
Er streichelt heiter die nackte Erde.
302 
"Ich wünsche mir herzlich Herzfreude zum Weib,
303 
Und ich will wünschen und ich will lenken."
 
304 
Phallus verlässt die einsame Erde
305 
Und wandert über den Urleib des Himmels.
306 
Am lohenden Sonnenherd sitzen die Riesen,
307 
Urlicht und Urklang, sie dienen dem Urherz.
308 
Urlicht bückt sich ins Feuer und fragt:
309 
Urklang, mich blendet im Feuer ein Feuer.
310 
Urklang bückt sich zum Feuer und horcht:
311 
Ein Ruf trifft Urlicht, ein Ruf trifft Urklang,
312 
Die Riesen stürzen betäubt und geblendet.
 
313 
Das hastige Feuer schrumpft in den Herd,
314 
Die große Sonne steht dunkel und zittert.
315 
Unten im Abgrund schreit heiser die Erde,
316 
Die Wälder versteinern, Eis wächst im Tal,
317 
Aus allen Wolken fallen die Vögel,
318 
Die Tierherden seufzen und sterben.
 
319 
Phallus in Sehnsucht ruft seinen Herzschrei,
320 
Beim heftigen Herzruf stockt auch die Sonne:
321 
"Urlicht und Urklang, ihr dient dem Urherz,
322 
Gebt mir das Weib, den Leib heiter und nackt,
323 
Sehnsucht heftiger als die Sonnen
324 
Flammt über den Himmel, verdunkelt den Urleib."
 
325 
Die Sonnen halten mächtigen Rat,
326 
Phallus, höre die Worte der Sonnen:
327 
So Einer wünscht und wünschet von Herzen,
328 
Regiert er die Sonnen, sein Wille wird Urherz.
 
329 
Wir bauen im Urblau dir einen Stern,
330 
Sein Kreis sei runder als jede Sonne,
331 
Die irdische Iris kann ihn nicht fassen.
332 
Wir bauen im Urblau dir eine Wohnung,
333 
Neun Farben, neun Töne,
334 
Die Linie eine und einen Gedanken.
 
335 
Wir bauen im Urblau dir eine Erde,
336 
Rund dort die Ecken herzlicher Steine,
337 
Und Eine wandelt dort heiter und nackt
338 
Im Takt ihres ewigen Herzens.
339 
Ihr Auge ist rund, sie nenne Herzfreude,
340 
Die irdische Iris kann sie nicht fassen.
 
341 
Drei Söhne wird sie heiter gebären
342 
Aus Erde, aus Himmeln,
343 
Drei Söhne, Bildner, Pfeifer, Träumer.
344 
Die bringe zur Erde.
345 
Drei Bräute gebiert die Sonne den Söhnen,
346 
Drei Bräute, Lichtlust, Klanglust, Mär.
 
347 
Drei Söhne, drei Bräute schaffen den Menschen
348 
Nach heiligen Maßen, nach Linien der Mutter.
349 
Heitere Arme, nackender Leib,
350 
Füße, die wandeln im Takte des Herzens,
351 
Rund die Augen und rund das Herz.
 
352 
Nun glühe, Phallus, und zünde die Sonne.
353 
Komme, der Rasen treibt Wärme und Saft,
354 
Komme, der Garten treibt heiße Bäume,
355 
Honigäpfel liegen zu Paaren,
356 
In zwei Teichen steht dunkel geschrieben
357 
Das Alter der Sonne, das Alter der Erde.
 
358 
Dort in Lauben aus seltenem Laub
359 
Münden feurig die Straßen der Erde,
360 
Finde das Ende der schmerzlichen Welt.
 
361 
Phallus betrachtet sein kräftiges Weib.
362 
Du bist Herzfreude, dich will ich umarmen,
363 
Du bist nicht Erde. Wer hat dich geboren?
364 
Schmerz hat dich göttlich geboren.
 
365 
Phallus umarmt den verschwiegenen Leib,
366 
Warmer Regen fällt vom Gewölk,
367 
Urlicht und Urklang lachen am Herd,
368 
Breit fällt die Wärme zur Erde.
 
369 
Im Regenbogen war Bildner gewiegt,
370 
An den schön siebenfarbigen Bogen
371 
Knüpfte die Mutter das Bett ihm.
372 
Mit offenen Augen schlief dort das Kind
373 
Unter dem siebenfeurigen Bogen.
374 
Ihm fiel die Sternschnuppe heiß in die Stirn,
375 
Ein Feuer kränzt ihn, von Sternen gefallen.
 
376 
Pfeifer verlief sich im Vogelwald,
377 
Drei Tage sucht ihn die Mutter,
378 
Am ersten lacht er im Blau mit den Lerchen,
379 
Am zweiten nährt ihn mit Eiern die Wachtel,
380 
Die Nachtigall weinte am dritten mit ihm.
381 
Ihm fiel eine Sternschnuppe heiß in die Stirn,
382 
Ein Feuer kränzt ihn, von Sternen gefallen.
 
383 
Träumer ist blind geboren und taub,
384 
Doch neun Farben weiß er, die Brüder nur sieben.
385 
Neun Töne kennt er, die Brüder nur sieben.
386 
Die Sternschnuppe fiel ihm heiß in die Stirn,
387 
Nun spricht er Feuer, von Sternen gefallen,
388 
Und Feuer kränzt ihn.
 
389 
"Vater, ich hörte ein Seufzen im Schlaf."
390 
"Das war die Erde, mein Sohn,
391 
Die Erde ist arm."
 
392 
"Vater, ich hörte ein Schluchzen im Schlaf."
393 
"Das war die Erde, mein Sohn,
394 
Die Erde ist leer."
 
395 
"Vater, mich brannten Tropfen im Schlaf."
396 
"Das waren Tränen, die Erde will Menschen."
397 
"Vater, wir schlafen nicht mehr im Himmel,
398 
Wir wollen zur Erde, wir schaffen ihr Menschen."
399 
"Wollt ihr zur schmerzlich zackigen Erde,
400 
Fasst nie mehr das Auge den Himmel, den runden.
401 
Küsst eure Mutter, seht ihr ins Auge,
402 
Nie seht ihr wieder solch rundes Auge,
403 
Kommt ihr zur schmerzlich zackigen Erde."
 
404 
"Wir wollen zur Erde, wir schaffen Menschen,
405 
Rundherzige Menschen wie Augen der Mutter."
 
406 
"Ich bin euer Führer, wollt ihr zur Erde,
407 
Ich küsse euch, Söhne, mit herzlichem Rat:
408 
Kommt ihr zur Erde,
409 
Jungfrauen der Sonne nehmt euch zu Bräuten,
410 
Und drei erwarten euch auf der Erde.
411 
Bildner, nimm Lichtlust.
412 
Pfeifer, nimm Klanglust.
413 
Träumer, nimm Mär.
414 
Die Frauen beschlafet jeglichen Tag,
415 
Ungeschwächt werden die Frauen euch lieben.
416 
Stündlich wächst euch männliche Kraft,
417 
Und Jungfrauen werden sie täglich."
 
418 
Die Mutter umarmt die fröhlichen Söhne:
419 
"Hört, meine Söhne, kommt ihr zur Erde,
420 
Ein Wurm lebt urgrau unter den Würmern,
421 
Er nagt an der Erde, sie nennt ihn Tod.
422 
Ihn ehret, gebt ihm ersehnte Gestalt,
423 
Gebt ihm junge aufrechte Gestalt,
424 
Gebt ihm Lächeln und rosiges Blut,
425 
Es knirsche nur eisern die eiserne Sohle,
426 
Der fröhliche Schmetterling steig' aus dem Haupt.
 
427 
Kommt ihr zur Erde,
428 
Im Berg auf Magneten liegt Unheil, die Schlange,
429 
Ihr gebet göttliche Linien, doch keinen Körper,
430 
Ein Schatten, mit Ketten gefesselt an Sonnen,
431 
Er schreite aufrecht in steinernen Ketten,
432 
Dunkel das Zepter, dunkel die Krone.
 
433 
Kommt ihr zur Erde,
434 
Brandblumen wachsen, Brandblumen schwächen,
435 
Erdlust pflückt euch die Blumen vom Leib;
436 
Erdlust drückt Trauben ins hitzige Haar,
437 
Ehrt Erdlust, Mutter der Tiere und Früchte,
438 
Sie schürt die Feuer im lodernden Laub,
439 
Ehrt ihre Töchter, Erdfeuer, Fleischlüste,
440 
Blutbrand öffnet fangarmig ihr Haar,
441 
Gürtellos ruft vom wirbelnden Berg,
442 
Nie ist ein Tag am wollüstigen Kamm,
443 
Doch keiner fürchte die feurige Höhe,
444 
Dort tanzen die Töchter den rauchenden Tanz
445 
Jährlich sechs Nächte,
446 
Drei Nächte im Maimond,
447 
Drei Nächte im Herbstmond.
 
448 
Kommt ihr zum Berg auf lockender Asche,
449 
Verliert die Sonne und alle Schatten,
450 
Lebt den Willen des Willenlosen
451 
Jährlich sechs Nächte,
452 
Drei Nächte im Maimond,
453 
Drei Nächte im Herbstmond.
 
454 
Seid ihr auf Erden,
455 
Nie backt dort Ziegel vom Staub eurer Brüder.
456 
Nie näht von Maulwurffellen euch Mützen,
457 
Schneller geht nie als im Takt eurer Herzen,
458 
Aber schaut tiefer als euer Auge.
459 
In warmen Lauben schafft warme Menschen,
460 
Rund, wie mein Auge, schafft runde Herzen,
461 
Nackt, wie ihr selber, schafft nackte Menschen."
 
462 
Ein roter Blitz trägt Phallus zur Erde,
463 
Die Söhne eilen auf fruchtbarer Wolke.
464 
Die blaue Wolke sät blauen Samen,
465 
Drei blaue Hengste stampfen am Erdrand.
 
466 
Nur junge Blitze fressen die Hengste,
467 
Mit beiden Händen streut Phallus Blitze.
468 
Die stählernen Hengste hat Urblau geworfen,
469 
Sie stampfen und nennen sich Eifer.
 
470 
Die Hengste stampfen, da blühen die Steine,
471 
Die Steinwälder treiben, und munter grünt Saft.
472 
Die Hengste schnauben, da schwinden die Gletscher,
473 
Die Eisfelder schwinden, und munter blüht Kraut,
474 
Die Hengste schütteln die lachenden Nüstern,
475 
Da lachen die Berge und werden Magneten,
476 
Magneten ziehen die Sonne zur Erde.
 
477 
"Nun lass' ich euch Söhne am dunkeln Erdrand:
478 
Drei goldne Stuten fliehen am Meer,
479 
Drei goldene Bremsen stechen die Stuten,
480 
Drei goldene Bräute müsst ihr erreichen."
 
481 
Phallus kehrt zu Herzfreude im Urblau,
482 
Die Söhne greifen die steigenden Hengste,
483 
Zwölf Monde jagen die Hengste die Stuten,
484 
Zwölf Monde fliehen die Bräute der Sonne.
485 
Siebenmal um den Gürtel der Erde
486 
Und sieben Stuten jagt jegliche Braut.
 
487 
Einundzwanzig stürzen zu Asche.
488 
Drei des Saturn, drei des Neptun,
489 
Des Uranus drei,
490 
Drei vom Mars, drei der Erde,
491 
Der Venus drei und drei der Sonne.
 
492 
Die letzten der Stuten zerstäuben im Gras,
493 
Und sonnenweiß stehn in den Aschen die Bräute.
494 
Lichtlust, Klanglust, Märlust, sie warten
495 
Und grüßen Bildner und Pfeifer und Träumer.
 
496 
"Wir sind geflohn, bis zu Asche die Stuten,
497 
Stahl sind eure Hengste, nie bluten die Hufe.
498 
Stahl seid ihr Fürsten, wir sind eure Mägde."
 
499 
Irisfelder blühn aus den Aschen
500 
Und Felder von rundem vierblättrigem Klee,
501 
Die Irisblumen sind Hochzeitsbetten,
502 
Der breite Klee labt den siegenden Hengst.
 
503 
Die Männer sprechen zu ihren Frauen:
504 
"Wir ehren die Wünsche, ihr strengen Frauen,
505 
Wir wollen im jungen Tau euch erwarten,
506 
Wir wollen mit steigender Sonne euch lieben,
507 
Wir wollen mit fallender Sonne euch lassen,
508 
Jeder Tag soll mit Eifer schaffen,
509 
Menschen rundherzig wie Augen der Mutter."
 
510 
"Wir ehren die Wünsche unserer Männer,
511 
Und keinen Tag wollen wir zögern im Himmel,
512 
Jeder Tag soll mit Eifer schaffen
513 
Rundherzig den Menschen."
 
514 
Rundherz, der erste rundherzige Mann,
515 
Rundherz, die erste rundherzige Frau,
516 
Beide aus weißen Magneten geschaffen,
517 
Die lagen zusammen im Herzen der Erde.
 
518 
Sie halten sich sicher mit beiden Händen,
519 
Sie halten sich sicher mit beiden Augen,
520 
Sie halten sich ewig mit beiden Herzen,
521 
Nie kann die zerbrechende Erde sie trennen.
 
522 
Nicht lange, da wurde Goldklang geboren,
523 
Aus sieben Erzen und sieben Klängen,
524 
Aus sieben Welten und sieben Himmeln,
525 
Sie singt, und sieben Echo erwachen,
526 
Sieben Wälder blühen, sieben Quellen tanzen.
 
527 
Und weiter nicht lange, da wurde Goldwort,
528 
Goldwort, der Stumme, neun Farben im Auge,
529 
Neun Töne im Ohre, neun Lächeln im Antlitz,
530 
Mit einem Lächeln befriedigt er alle,
531 
Neunmal befriedigt er lächelnd die Erde.
 
532 
Vier Menschen leben rund unter den Bäumen,
533 
Sie leben glücklich mit glücklichen Tieren,
534 
Sie leben glücklich mit glücklichen Früchten,
535 
Glücklich wie Mutter Herzfreude im Urblau.
536 
Noch einmal wird dann am letzten geboren,
537 
Wer da geboren, niemand wird's wissen.
 
538 
Nicht von den glücklichen Menschen gekommen,
539 
Nicht von göttlichen Vätern und göttlichen Müttern,
540 
Aus keinem Körper, aus keinem Gedanken,
541 
Sie fassen es nie, die glauben zu fassen.

Details zum Gedicht „Phallus“

Anzahl Strophen
112
Anzahl Verse
541
Anzahl Wörter
3314
Entstehungsjahr
1867 - 1918
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Max Dauthendey ist der Autor des Gedichtes „Phallus“. Dauthendey wurde im Jahr 1867 in Würzburg geboren. Zwischen den Jahren 1883 und 1918 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne, Expressionismus oder Avantgarde / Dadaismus zuordnen. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 3314 Wörter. Es baut sich aus 112 Strophen auf und besteht aus 541 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Max Dauthendey sind „Wolkenschatten“, „Zwei schwarze Raben“ und „Ein Märchen“. Zum Autor des Gedichtes „Phallus“ haben wir auf abi-pur.de weitere 19 Gedichte veröffentlicht.

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