Märchen von Franz Grillparzer

1	In eines alten Turmes Schacht
2	Liegt goldenhell ein Schatz,
3	So reich, daß, wer sein kundig ward,
4	Wünscht sich des Hüters Platz.
5	Der Hüter aber ist ein Drach,
6	Der wahrt das edle Gut;
7	Goldgierig, geizig, wie er ist,
8	Hält Tag und Nacht er Hut.
9	Der Schuppen jed' ist ihm ein Aug,
10	Und Kralle jedes Glied,
11	Drum sieht er, hört, hält ab, was vor,
12	Was hinter ihm geschieht.
13	Ein Ritter aber, ohne Rast,
14	Klimmt kühn den Berg empor.
15	Umsonst! denn, wenn es halb gelang,
16	Kommt ihm der Drach zuvor.
17	Der Schatz nun selber regt sich nicht,
18	Wie eben Schätze tun.
19	Das Schöne ruht; der höchste Preis,
20	Gleich ihm, in ihm zu ruhn.
21	Die Perle hat doch auch kein Ohr,
22	Der Demant keinen Mund,
23	Der Blick des Goldes winkend nur
24	Gibt Wunsch nach Freiheit kund.
25	So setzen sies schon lange fort,
26	Der Hüter seinen Lauf,
27	Das reiche Gut kommt nicht herab,
28	Der Sucher nicht hinauf.
29	Nur fürcht ich, währt es allzulang,
30	Erlahmt die Phantasie,
31	Und streift die bunten Farben ab,
32	Die ihr das Märchen lieh.
33	Der Drache geht dann schuppenlos,
34	Der Ritter räumt den Platz;
35	Und nichts bleibt, was es früher war,
36	Als eines nur: der Schatz.

Details zum Gedicht „Märchen“

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Märchen“ des Autors Franz Grillparzer. 1791 wurde Grillparzer in Wien geboren. Zwischen den Jahren 1807 und 1872 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Grillparzer handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 194 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 36 Versen. Der Dichter Franz Grillparzer ist auch der Autor für Gedichte wie „An einen Freund“, „Beethoven“ und „Der Wunderbrunnen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Märchen“ weitere 300 Gedichte vor.

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