Die Nachtigall von Werawag von Louise Otto-Peters

Vom Schwarzwald wie ein Silberstreifen,
Die blauen Donauwellen eilen –
Fast lockt’s, die Blumen selbst zu greifen,
Die doch am andern Ufer weilen,
So ruhig wogt sie hin, so schmal,
Durch Wald und Fels im engen Thal.
 
Dort wo auf hohen Bergesrücken
Viel alte Burgruinen stehen,
Zum Schrecken bald, bald im Beglücken
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Zum jungen Strom herniedersehen,
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Da hört ich einst im Blüthenhag
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Die Nachtigall von Werawag.
 
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Die steile Höhe war erklommen,
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Zum Abgrund schaut ich schwindelnd nieder,
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Da hab’ in Tönen ich vernommen
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Das Echo alter Minnelieder
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Die einstens sang zum Harfenschlag
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Herr Hug und Ott von Werawag,
 
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Das waren edle Minnesänger,
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Die einst auf dieser Burg geboren,
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Das Saitenspiel, je mehr, je länger,
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Statt rauhen Waffendienst erkoren,
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Erst leis’ dann lauter sang danach,
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Die Nachtigall von Werawag.
 
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Ein Mägdlein, eine stolze Schöne,
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Dem adligem Geschlecht entsprossen,
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Sie hörte früh der Harfen Töne,
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Die Harfner waren ihr Genossen,
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Als Ahnen standen sie ihr nah.
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Wars’ da ein Wunder, was geschah?
 
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Lütgarde diente selbst dem Sange
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Der Minne, den sie früh vernommen,
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Gehorchend einem süßen Drange,
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Der machtvoll in ihr Herz gekommen,
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So hieß sie denn seit diesem Tag:
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Die Nachtigall von Werawag.
 
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Du Mädchenherz aus alten Zeiten,
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Dein Lob um Minnesang und Minne
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Will Dir ein ander Weib bereiten!
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Denn es kommt nicht aus meinem Sinne,
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Was mir von Dir die Donau sprach,
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Du Nachtigall von Werawag!
 
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II.
 
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Einst hörte in der Burg Kemnaten
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Lütgarde, da es draußen stürmte,
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Die Mutter mit dem Vogt beraten,
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Wie man zwei fremde Reiter schirmte,
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Die wohl verirrt, als sank der Tag,
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Einlaß begehrt, auf Werawag.
 
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Kaum nennt der Aeltere der beiden,
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Den jüngeren: Rudolf, den Sänger,
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Da tönten bald der Harfen Saiten.
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Mit süßen Klängen, eng und enger
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Umwob in Tönen Zauberbann
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Die Jungfrau und den fremden Mann –
 
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Da er geschieden, ging die Märe:
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Es sei der Kaiser selbst gewesen,
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Der hier verirrt von ungefähre
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Solch stillen Aufenthalt erlesen.
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Doch bald verkündet ward mit Hohn:
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Der Fremde war ein Bürgerssohn.
 
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Mit Lächeln hörte es Lütgarde:
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Wer also hold die Saiten rührte
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War ihr ein gottgesandter Barde.
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Ob er ein stolzes Wappen führte,
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Die Krone trug –: ihr galts nicht mehr –
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Dem Sänger nur gab sie die Ehr’.
 
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Dem Sänger nur gab sie die Seele –
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Sie wies zurücke jedes Werben:
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Und daß sie niemals sich vermähle
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Viel lieber wollt als Jungfrau sterben
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Gab stets zur Antwort jeder Frag’,
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Die Nachtigall von Werawag. –
 
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Da einstens ist der Tag gekommen:
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Zu Freiburgs Mauern sieht man’s wallen,
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Ein herrlich Paar zieht glückumschwommen
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In die geweihten hohen Hallen.
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Das ist der frohe Hochzeitstag
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Der Nachtigall von Werawag.
 
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Der Bürgerssohn im Dienst der Minne,
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Im Dienst des Sanges und der Seinen,
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Den Bürgern all’, die im Gewinne
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Ersehnter Freiheit ihm sich einen,
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Dem Sänger, der die Holde freit,
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Die Nachtigall, die ihm sich weiht.
 
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Sie ließ das Raubschloß ihrer Ahnen
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Mit seinem blut’gen Heldenruhme
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Und wandte sich auf neuen Bahnen,
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Zu des Geliebten Bürgertume,
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Die Nachtigall von Werawag,
91 
Vereint mit ihm des Sanges pflag.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Die Nachtigall von Werawag“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
91
Anzahl Wörter
496
Entstehungsjahr
1870-1880
Epoche
Realismus,
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht trägt den Titel „Die Nachtigall von Werawag“ und wurde von der Autorin Louise Otto-Peters verfasst, die von 1819 bis 1895 lebte. Dies ordnet das Gedicht zeitlich in das 19. Jahrhundert ein, genauer gesagt in die Epoche des Biedermeier und des Realismus.

Auf den ersten Blick entfaltet das Gedicht eine romantische Atmosphäre, es erzählt eine Art mittelalterliche Liebesgeschichte in der Landschaft des Schwarzwaldes an der Donau.

Im Inhalt geht es um das Mädchen Lütgarde, das in einer alten Burg lebt und zur Musik der Minnesänger aufwuchs. Sie wird als „Nachtigall von Werawag“ bezeichnet, was auf ihre musikalische Begabung und ihren Gesang hinweist. Eines Tages trifft sie auf zwei fremde Reiter, einer davon ist ein Sänger namens Rudolf. Obwohl sie erfährt, dass er kein Adliger, sondern nur ein Bürgerssohn ist, entscheidet sie sich, ihm ihr Herz zu schenken. Sie entsagt letztendlich ihrem Adelstitel und heiratet ihn, um mit ihm zusammen zu leben und zu singen.

Bezogen auf das lyrische Ich, könnte man interpretieren, dass es Lütgarde, die Nachtigall von Werawag, repräsentiert. Es geht um die Bedeutung von Freiheit, Selbstbestimmung und Liebe, die über Standesgrenzen hinausgeht.

Vom Sprachstil her ist das Gedicht in traditionellem Reimschema verfasst, es weist einen flüssigen Rhythmus auf und verwendet eine bildhafte und gefühlvolle Sprache. Die Landschaftsbeschreibungen und der Bezug zur Musik und zum Gesang sind dabei besonders auffällig.

Zusammengefasst handelt es sich bei „Die Nachtigall von Werawag“ von Louise Otto-Peters um ein romantisch angehauchtes Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, das die Werte der Liebe, der Musik und der Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt und eine Standesübergreifende Liebesgeschichte erzählt.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Die Nachtigall von Werawag“ ist Louise Otto-Peters. Otto-Peters wurde im Jahr 1819 in Meißen geboren. 1880 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text den Epochen Realismus oder Naturalismus zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 496 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 91 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Louise Otto-Peters sind „Allein“, „Am Schluß des Jahres 1849“ und „Am längsten Tage“. Zur Autorin des Gedichtes „Die Nachtigall von Werawag“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 106 Gedichte vor.

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