Des Jahres erste Hälfte von Louise Otto-Peters

Vorüber sind die Feste wieder,
Die uns gegrüßt mit Glanz und Licht,
Verstummt die holden Weihnachtslieder,
D’raus reinster Liebe Segen spricht.
 
Es gab dafür ein langes Sorgen,
Ein Vorbereiten Tag und Nacht,
Beim Lampenschein ward mancher Morgen
Gar arbeitsvoll herangewacht.
 
Das Werk der Liebe zu bereiten,
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Bemühte sich so alt und jung,
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Und jedes Herz schien sich zu weiten
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In Hoffnung und Erinnerung,
 
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Ein Liebesfest so ohne Gleichen
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Im ganzen großen Vaterland,
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Wo Engelsruf und Sternenzeichen
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Zu hoher Botschaft sich verband!
 
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Und Liebe wurde zum Erbarmen:
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Vom Christbaum aus dem eignem Heim
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Fiel mancher Strahl auch auf die Armen
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Und weckte neuer Hoffnung Keim. –
 
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Die heil’ge Nacht – die Feiertage
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Mit aller Weihe, allem Glück,
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Des Jahreswechsels ernste Frage –
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Wir blicken jetzt darauf zurück.
 
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Vorüber wieder sind die Feste
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Und uns umfängt die Alltagswelt,
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Doch bleibt uns ja davon das Beste:
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Begeistrung, die uns aufrecht hält.
 
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Sie, die am Sterne sich entzündet,
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Der in der Weihnacht zog vorauf
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Und allen Sehenden verkündet:
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Es naht das Heil – nun wachet auf!
 
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Nun wachet auf zum Liebesglauben,
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Nun dient der neuen Zeit des Lichts –
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Den Weihegruß kann niemand rauben,
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Was ihm nicht dient, zerfällt in nichts.
 
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Den Festen folgt der Arbeit Mühen,
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Das ihnen freudig ging voran –
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Wenn wir im Dienst der Menschheit glühen,
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Sind wir auf rechter Lebensbahn.
 
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II.
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In Eis und Schnee.
 
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Das ist die Zeit, wo in Palästen
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Von Gas und Kerzenschein erhellt,
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Zu Tanz und Schmaus geladnen Gästen
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In Glanz getaucht erscheint die Welt.
 
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Das ist die Zeit wo Schlitten klingeln
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Und auf des Eises glatter Bahn
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Die Paare auch sich tanzend ringeln,
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Sich fliehen bald und bald sich nahn.
 
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Die Zeit ist’s, wo in Hauses Enge
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Sich alt und jung zusammen schließt
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Und fern von eitler Pracht Gedränge,
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Ein heimisch trautes Glück genießt.
 
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Wenns draußen schneit, gern am Kamine
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Man einsam ferner Zeit gedenkt,
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Bald lächelnd, bald mit Forschermiene
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In Rätselfragen sich versenkt.
 
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Die Zeit ist’s wo in kalter Kammer
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Nur Dunkel herrscht und bittre Not
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Zu Eis gefriert in allem Jammer
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Das Wasser und das Stückchen Brot!
 
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Und draußen auch im Feld, und Garten
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Die Vöglein klagen mat und weh –
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Auf Menschenliebe alle warten,
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Wo grausam herrschen Eis und Schnee.
 
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Das ist die Zeit im Dunkeln träumen
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Und sinnen über reich und arm –
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Wenn hier die Becher überschäumen
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Und dort kein Tropfen lind und warm.
 
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Im Ballsaal welken tausend Blüten
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Als schönster Schmuck in Frauenhand –
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Sie sind, je herrlicher sie glühten,
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Des Reichtums, nicht der Liebe Pfand!
 
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O wollt bei ihnen recht erwägen:
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Es sei der Frauen Ideal
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Um sich zu breiten Trost und Segen –
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Sonst ist das Leben öd und schal.
 
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Wer nicht im Winter denkt der Armen
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Und Segen auszustreuen weiß,
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Wird nie zu schöner Glut erwarmen,
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Schmilzt allenthalben auch das Eis!
 
83 
Für solche ist kein Lenzeswehen,
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Kein Vögelein voll Dank und Preis –
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Mag noch so hoch die Sonne stehen –
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Sie sind erstarrt in Schnee und Eis.
 
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III.
88 
Im Februar.
 
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Ihr Sonnenrosse empor! empor!
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Nun lenket höher den Wagen.
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In heil’gen Nächten ward klirrend das Thor
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Schon hinter Euch zugeschlagen.
 
93 
Nicht abwärts leitet die „Neue Bahn,“
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Die jetzt Euch zu wandeln beschieden,
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Nur aufwärts und höher schreitet voran
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Und Niemand soll Halt Euch gebieten!
 
97 
Kurzsichtige Menschen, weil Wintersgraus
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Und Schnee und Eis sie umfangen,
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Die blicken in Zagen und Angst hinaus,
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Da langsam die Tage nur langen.
 
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Sie grübeln am Herd und erwärmen sich nicht,
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Und haben nicht Mut und nicht Glauben
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An neue Wärme, an neues Licht –
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Sie hören die Rosse nicht schnauben.
 
105 
Sie sehen nicht rollen das feurige Rad,
106 
Von der Sonnengöttin geleitet,
107 
Der Göttin der Freiheit, der Liebe, der That,
108 
Dran unser Hoffen sich weidet. –
 
109 
Ihr Sonnenrosse empor! empor!
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Dann ist die Kälte vergangen –
111 
Und wer im Winter den Glauben verlor
112 
Wird vom blühenden Lenz ihn empfangen.
 
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IV.
114 
Osterfeiertag.
 
115 
Vom Turme tönt in stiller Sabbathfrühe
116 
Posaunengruß: der Herr ist auferstanden!
117 
Er liegt nicht mehr in finstern Grabesbanden;
118 
Da wars, als wenn der Himmel purpurn glühe.
 
119 
Allmählich schiens, als ob er Funken sprühe,
120 
Die Lerchen aufwärts Jubelgrüße sandten,
121 
Im Veilchenaug’ sich goldne Tropfen fanden,
122 
Und jede Knospe träumte, daß sie blühe.
 
123 
Solch eine Feier mahnt beklommne Herzen,
124 
So blühend, glühend, und so sonnenhaft
125 
Ein neues Leben freudig zu beginnen.
 
126 
Das Grab, das Kreuz und alle bange Schmerzen
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Sind überwunden von der Gottheit Kraft.
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Triumph erschallt und Freudenthränen rinnen.
 
129 
V.
130 
Himmelfahrt.
 
131 
Ein Feiertag im holden Maienmond
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Wird eingeläutet von den Kirchenglocken,
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Den Blick zu dem, der hoch im Himmel thront,
134 
In Andachtsschauern fromm empor zu locken.
 
135 
Die Erde trägt ihr schönes Festgewand,
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All überall ein Blühen und ein Düften!
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Seit Ostern stürzte finstern Grabesrand
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Erstand ein neues Leben aus den Grüften.
 
139 
Und neue Wunder überall geschehn
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Wo Keime wachsen und wo Vöglein singen –
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Wohin wir hören und wohin wir sehn
142 
Will Alles aufwärts zu dem Himmel dringen.
 
143 
So winkt auch die Natur zur Himmelfahrt;
144 
Im blauen Aether weiße Wolken schwimmen,
145 
Das Aug, fast glanzgeblendet, doch gewahrt
146 
Wie Gold und Purpur in einander glimmen.
 
147 
Wie Erd und Himmel durch den Wolkenflor
148 
Am Horizonte sanft zusammenfließen,
149 
Wie Lerchen zwitschern zu dem Kirchenchor
150 
Und Alles läd zu seligem Genießen. –
 
151 
So feiern wir den wunderreichen Tag,
152 
Der nach der Osterweihe uns gegeben
153 
Bis ihm das hohe Pfingstfest folgen mag,
154 
Zum Himmel uns’re Blicke zu erheben.
 
155 
So feiern wir die wunderreiche Zeit
156 
In frohem Aufblick und im sel’gen Ahnen:
157 
Das Fest des heil’gen Geistes ist nicht weit,
158 
Den Weg zum Gottesreiche uns zu bahnen.
 
159 
Nicht nur allein für uns sind wir bestrebt
160 
Das Gottesreich auf Erden auszubreiten:
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Nur wer im Dienst der ganzen Menschheit lebt
162 
Dient sich und seiner Zeit und allen Zeiten.
 
163 
Drum alle, die wir solchen Dienst gewählt,
164 
Des Geistes Streiter, Männer oder Frauen,
165 
Ob glücklichlebend, ob von Leid gequält,
166 
Sind wir geweiht durch Mut und Gottvertrauen.
 
167 
Im Dienst der Menschheit kämpfend, treugeschart
168 
Sind gleich den Jüngern wir zum Werk verbunden –
169 
Und Ahnungsschauer einer Himmelfahrt
170 
Will sich als Segen unserm Thun bekunden.
 
171 
VI.
172 
Pfingstsonne.
 
173 
Laßt folgen mich der Sonne Winken,
174 
Dem Pfingstenrufe der Natur,
175 
Laßt mich des Daseins Wonne trinken,
176 
Die Luft des himmlischen Azur.
 
177 
Laßt mich dem hohen Ruf gehorchen,
178 
Der noch aus jeder Blüte sprach,
179 
Aus Lerchenlied am Pfingstenmorgen
180 
In einem Hauch: der Sonne nach!
 
181 
Der Sonne nach: – O wie ihr Walten
182 
Den dunklen Himmelsdom durchbricht,
183 
Ein neues Leben zu entfalten
184 
Im Schöpfungswort: es werde Licht!
 
185 
Und alles blüt und alles singet
186 
Und grüßt den heil’gen Pfingstentag,
187 
Der neues Licht und Leben bringet,
188 
Und alles drängt der Sonne nach.
 
189 
Ihr strebt die Lerche froh entgegen,
190 
Die zwitschernd hebt ihr Schwingenpaar,
191 
Zu ihr mit kühnen Flügelschlägen
192 
Steigt stolz empor der junge Aar.
 
193 
Und rings vom Pfingstenruf durchglühet
194 
Drängt alles zu dem Licht hervor,
195 
Wo nur ein Sonnenfunken sprühet
196 
Klingt auch der Ruf: Empor! empor!
 
197 
So wird des Geistes Ruf vernommen,
198 
Der alle Wesen aufwärts zieht,
199 
Er ist auch mir, auch mir gekommen,
200 
Empor mein Aug’, empor mein Lied!
 
201 
Empor mein Sinnen und mein Denken,
202 
Der Sonne nach, dem Lichte zu!
203 
Und will die Erde dich beschränken
204 
So wage höh’ren Flug auch du!
 
205 
Wag ihn und sink ans Herz der Sonnen,
206 
Aus dem die Gottheit zu dir sprach:
207 
Der Menschheit Heil wird nur gewonnen,
208 
Strebt sie empor – der Sonne nach!

Details zum Gedicht „Des Jahres erste Hälfte“

Anzahl Strophen
55
Anzahl Verse
208
Anzahl Wörter
1192
Entstehungsjahr
1880-1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Des Jahres erste Hälfte“ wurde von Louise Otto-Peters verfasst, einer deutschen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, die von 1819 bis 1895 lebte. Das Werk kann folglich in das 19. Jahrhundert eingeordnet werden, genauer gesagt in die Epoche des Biedermeiers und des Vormärz.

Bei einem ersten Lesen entsteht der Eindruck, dass das Gedicht thematisch den Weg des lyrischen Ichs durch die erste Hälfte des Jahres nachzeichnet. Es beginnt mit der Nachweihnachtszeit und endet mit dem Frühling und Pfingsten. Das lyrische Ich reflektiert dabei immer wieder das Zusammenspiel von Festen, Alltag, Arbeit und Natur.

Im Detail behandelt das Gedicht den Zyklus des Jahres, wie er sich in den Feiertagen und den Naturbegebenheiten widerspiegelt. Es beginnt mit dem Nachklang der Weihnachtszeit, in dem das lyrische Ich das mühevolle, aber erfüllende Vorbereiten auf das Fest und die damit verbundene Hoffnung und Liebe betont. Es folgt ein Abschnitt, der sich mit den winterlichen Monaten beschäftigt, in denen Kälte und Armut vorherrschen, aber auch die Pracht von Bällen und Festlichkeiten. Im darauf folgenden Abschnitt wird der Wandel vom Winter zum Frühling durch die Metapher der Sonnenrosse verdeutlicht. Ostern und Himmelfahrt repräsentieren den Aufbruch und die Befreiung aus der Dunkelheit, während Pfingsten die Vollendung und das Erwachen zum neuen Leben symbolisiert.

Formal gesehen besteht das Gedicht aus 55 Strophen, die jeweils zwei bis vier Verse enthalten. Die Verse sind jambisch und weisen einen Kreuzreim auf. Die Sprache des Gedichts ist klar und verständlich, die Bilder und Metaphern sind eingängig und für jedermann nachvollziehbar. Besonders auffällig ist die immer wiederkehrende Bezugnahme auf Licht und Sonne als Symbole für Hoffnung, Erneuerung und Leben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Des Jahres erste Hälfte“ von Louise Otto-Peters ein lyrisches Werk ist, das den Lauf des Jahres und das Wechselverhältnis zwischen Alltag und Feier, Arbeit und Ruhe, sowie Dunkelheit und Licht reflektiert. Es vermittelt somit einen tiefgehenden Einblick in das menschliche Dasein und dessen immerwährende Zyklen.

Weitere Informationen

Louise Otto-Peters ist die Autorin des Gedichtes „Des Jahres erste Hälfte“. 1819 wurde Otto-Peters in Meißen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 1192 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 208 Versen mit insgesamt 55 Strophen. Die Gedichte „Am Schluß des Jahres 1849“, „Am längsten Tage“ und „An Alfred Meißner“ sind weitere Werke der Autorin Louise Otto-Peters. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Des Jahres erste Hälfte“ weitere 106 Gedichte vor.

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