Anno Domini 1812 von Richard Dehmel

Über Rußlands Leichenwüstenei
faltet hoch die Nacht die blassen Hände;
funkeläugig durch die weiße, weite,
kalte Stille starrt die Nacht und lauscht.
Schrill kommt ein Geläute.
 
Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif,
ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt
stiebende Furchen, die Peitsche pfeift,
es dampfen die Pferde, Atem fliegt;
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flimmernd zittern die Birken.
 
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?Du - was hörtest Du von Bonaparte!"
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Und der Bauer horcht und wills nicht glauben,
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daß da hinter ihm der steinern starre
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Fremdling mit den harten Lippen
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Worte so voll Trauer sprach.
 
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Antwort sucht der Alte, sucht und stockt,
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stockt und staunt mit frommer Furchtgeberde:
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aus dem Wolkensaum der Erde,
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brandrot aus dem schwarzen Saum,
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taucht das Horn des Mondes hoch.
 
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Düster wie von Blutschnee glimmt die lange Straße,
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wie von Blutfrost perlt in den Birken,
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wie von Blut umtropft sitzt Der im Schlitten.
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?Mensch, was sagt man von dem großen Kaiser!"
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Düster schrillt das Geläute.
 
26 
Die Glocken rasseln; es klingt, es klagt;
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der Bauer horcht, hohl rauschts im Schnee.
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Und schwer nun, feiervoll und sacht,
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wie uralt Lied so dumpf und weh
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tönt sein Wort ins Öde:
 
31 
?Groß am Himmel stand die schwarze Wolke;
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treffen wollte sie den heiligen Mond.
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Doch der heilige Mond steht noch am Himmel,
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und zerstoben ist die schwarze Wolke.
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Volk, was weinst du?
 
36 
Trieb ein stolzer kalter Sturm die Wolke;
37 
treffen sollte sie die stillen Sterne.
38 
Aber ewig blühn die stillen Sterne;
39 
nur die Wolke hat der Sturm zerrissen,
40 
und den Sturm verschlingt die Ferne.
 
41 
Und es war ein großes schwarzes Heer,
42 
und es war ein stolzer kalter Kaiser.
43 
Aber unser Mütterchen, das heilige Rußland,
44 
hat viel tausend stille warme Herzen:
45 
Ewig, ewig blüht das Volk!"
 
46 
Hohl verschluckt der Mund der Nacht die Laute,
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dumpfhin rauschen die Hufe, die Glocken wimmern;
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auf den kahlen Birken flimmert
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rot der Reif, der mondbetaute.
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Den Kaiser schauert.
 
51 
Durch die leere Ebne irrt sein Blick:
52 
Über Rußlands Leichenwüstenei
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faltet hoch die Nacht die blasse Hände,
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glänzt der dunkelrot gekrümmte Mond,
55 
eine blutige Sichel Gottes.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.8 KB)

Details zum Gedicht „Anno Domini 1812“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
55
Anzahl Wörter
331
Entstehungsjahr
1863 - 1920
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht stammt von Richard Dehmel, einem deutschen Dichter und Schriftsteller, der von 1863 bis 1920 lebte. Es kann damit der Epoche des Naturalismus bzw. der beginnenden Moderne zugeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist düster und unheimlich. Es scheint, als ob der Dichter von einer Situation berichtet, in der es um Leben und Tod geht, und das Gleichgewicht sehr unsicher ist.

In dem Gedicht geht es um eine Begegnung zwischen einem alten Bauer und einem ungenannten „Fremdling“, der zu einem späteren Zeitpunkt im Gedicht als Kaiser identifiziert wird. Bei der zeitlichen Einordnung in das Jahr 1812 und der Erwähnung von „Bonaparte“ lässt sich dieser Fremdling als Napoleon Bonaparte identifizieren. Beide scheinen über das Schicksal Russlands und Napoleons im Kontext der französischen Invasion Russlands 1812 zu reflektieren.

Das lyrische Ich spricht in der dritten Person und scheint mehr ein Beobachter als ein aktiver Teilnehmer in der Situation zu sein. Die dunkle Stimmung, die das Gedicht ausstrahlt und die Beschreibungen des Winters in Russland deutet auf die tragischen Folgen des Krieges hin.

Form und Sprache des Gedichts sind recht komplex. Das Gedicht besteht aus elf Strophen zu je fünf Versen, was eine recht strenge und formale Struktur suggeriert. Die Sprache ist gehoben und poetisch, und es gibt zahlreiche metaphernreiche Beschreibungen. Die wiederholte Verwendung bestimmter Wörter und Bilder („Leichenwüstenei“, „blutige Sichel“, „Wolke“, „Mond“ etc.) verstärkt die bedrohliche und unheimliche Atmosphäre.

Die thematischen Schwerpunkte des Gedichts sind Krieg, Tod und Hoffnung. Es wird das Leid dargestellt, das der Krieg über die Menschen bringt, und wie es die natürliche Ordnung der Dinge stört. Gleichzeitig scheint es eine Botschaft der Hoffnung zu geben, wie in den Versen „Ewig, ewig blüht das Volk!“ und „den Sturm verschlingt die Ferne“, was darauf hindeutet, dass trotz der Zerstörung das Leben weitergeht und die Menschen sich erholen können.

Es ist ein kraftvolles Gedicht, das durch seine eindringlichen Beschreibungen und seine emotionale Tiefe besticht. Es wirft einen kritischen Blick auf die Folgen von Krieg und Machthunger, bietet aber auch eine hoffnungsvolle Perspektive auf die menschliche Stärke und Widerstandsfähigkeit.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Anno Domini 1812“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Dehmel wurde im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Zwischen den Jahren 1879 und 1920 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 331 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 55 Versen. Die Gedichte „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Anno Domini 1812“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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