Amor als Landschaftsmaler von Johann Wolfgang von Goethe

Saß ich früh auf einer Felsenspitze,
Sah mit starren Augen in den Nebel;
Wie ein grau grundiertes Tuch gespannet,
Deckt' er alles in die Breit und Höhe.
 
Stellt' ein Knabe sich mir an die Seite,
Sagte: »Lieber Freund, wie magst du starrend
Auf das leere Tuch gelassen schauen?
Hast du denn zum Malen und zum Bilden
Alle Lust auf ewig wohl verloren?«
 
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Sah ich an das Kind und dachte heimlich:
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Will das Bübchen doch den Meister machen!
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»Willst du immer trüb und müßig bleiben«,
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Sprach der Knabe, »kann nichts Kluges werden:
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Sieh, ich will dir gleich ein Bildchen malen,
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Dich ein hübsches Bildchen malen lehren.«
 
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Und er richtete den Zeigefinger,
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Der so rötlich war wie eine Rose,
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Nach dem weiten, ausgespannten Teppich,
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Fing mit seinem Finger an zu zeichnen:
 
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Oben malt' er eine schöne Sonne,
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Die mir in die Augen mächtig glänzte,
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Und den Saum der Wolken macht' er golden,
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Ließ die Strahlen durch die Wolken dringen;
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Malte dann die zarten, leichten Wipfel
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Frisch erquickter Bäume, zog die Hügel,
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Einen nach dem andern, frei dahinter;
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Unten ließ er's nicht an Wasser fehlen,
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Zeichnete den Fluß so ganz natürlich,
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Daß er schien im Sonnenstrahl zu glitzern,
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Daß er schien am hohen Rand zu rauschen.
 
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Ach, da standen Blumen an dem Flusse,
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Und da waren Farben auf der Wiese,
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Gold und Schmelz und Purpur und ein Grünes,
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Alles wie Smaragd und wie Karfunkel!
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Hell und rein lasiert' er drauf den Himmel
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Und die blauen Berge fern und ferner,
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Daß ich ganz entzückt und neu geboren
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Bald den Maler, bald das Bild beschaute.
 
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»Hab ich doch«, so sagt' er, »dir bewiesen,
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Daß ich dieses Handwerk gut verstehe;
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Doch es ist das Schwerste noch zurücke.«
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Zeichnete darnach mit spitzem Finger
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Und mit großer Sorgfalt an dem Wäldchen,
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Grad ans Ende, wo die Sonne kräftig
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Von dem hellen Boden widerglänzte,
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Zeichnete das allerliebste Mädchen,
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Wohlgebildet, zierlich angekleidet,
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Frische Wangen unter braunen Haaren,
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Und die Wangen waren von der Farbe
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Wie das Fingerchen, das sie gebildet.
 
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»O du Knabe!« rief ich, »welch ein Meister
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Hat in seine Schule dich genommen,
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Daß du so geschwind und so natürlich
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Alles klug beginnst und gut vollendest?«
 
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Da ich noch so rede, sieh, da rühret
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Sich ein Windchen und bewegt die Gipfel,
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Kräuselt alle Wellen auf dem Flusse,
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Füllt den Schleier des vollkommnen Mädchens,
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Und was mich Erstaunten mehr erstaunte,
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Fängt das Mädchen an, den Fuß zu rühren,
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Geht zu kommen, nähert sich dem Orte,
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Wo ich mit dem losen Lehrer sitze.
 
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Da nun alles, alles sich bewegte,
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Bäume, Fluß und Blumen und der Schleier
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Und der zarte Fuß der Allerschönsten:
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Glaubt ihr wohl, ich sei auf meinem Felsen
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Wie ein Felsen still und fest geblieben?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Amor als Landschaftsmaler“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
67
Anzahl Wörter
446
Entstehungsjahr
1749 - 1832
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Amor als Landschaftsmaler“ wurde von Johann Wolfgang von Goethe geschrieben, einem der bedeutendsten Dichter der deutschen Literaturgeschichte. Goethe lebte zwischen 1749 und 1832, wodurch das Gedicht in die Epoche der Klassik und Romantik – genauer: der Weimarer Klassik – eingestuft werden kann.

Bei erster Betrachtung vermittelt das Gedicht einen mystischen und zugleich harmonischen Eindruck. Es scheint eine Szene aus der Natur darzustellen. Das lyrische Ich erzählt eine Begegnung mit einem malenden Knaben, der sich im Verlauf des Gedichts als der Liebesgott Amor entpuppt. Die starken Naturbeschreibungen vermitteln den Eindruck einer bildenden Kunst.

Das lyrische Ich beschreibt, wie es auf einer Felsenspitze sitzt und in den Nebel starrt, der alles verschleiert. Ein Knabe gesellt sich zu ihm und kritisiert das lyrische Ich für sein starres Betrachten des grauen Nebels. Er bietet an, dem lyrischen Ich das Malen beizubringen. Der Knabe erweist sich als begabter Maler, der mit seinem Finger die Landschaft auf dem Nebeltuch zum Leben erweckt. Nach und nach malt er eine strahlende Sonne, Bäume, Hügel, einen Fluss und schließlich ein Mädchen, das so wirklich wirkt, dass es sich schließlich sogar zu bewegen beginnt und auf das lyrische Ich zukommt.

Inhaltlich lässt sich das Gedicht als Allegorie auf das Erwecken von Gefühlen deuten. Zunächst ist das lyrische Ich abgestumpft, sieht nur den grauen Nebel. Doch der Knabe, der als Verkörperung von Amor gedeutet werden kann, bringt Farbe und Leben in die Szene und weckt dadurch die Gefühle des lyrischen Ichs, symbolisiert durch das heranrückende Mädchen.

In Bezug auf Form und Sprache lässt sich eine hohe Virtuosität erkennen. Das Gedicht ist in 55 Versen und zehn Strophen geschrieben. Die Reimstruktur variiert, was zur dynamischen Atmosphäre des Gedichts beiträgt. Die detaillierten und lebendigen Beschreibungen zeugen von Goethes meisterhaftem Umgang mit Sprache.

Unterm Strich ist „Amor als Landschaftsmaler“ ein hervorragendes Beispiel für Goethes Fähigkeit, tiefsinnige und zugleich zugängliche Poesie zu schaffen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Amor als Landschaftsmaler“ ist Johann Wolfgang von Goethe. Der Autor Johann Wolfgang von Goethe wurde 1749 in Frankfurt am Main geboren. Zwischen den Jahren 1765 und 1832 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird die Epoche des Sturm und Drang auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die von zwei bedeutenden Dichtern geprägt wurde: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die Literaturepoche beginnt 1786 mit Goethes Italienreise und endet 1832 mit Goethes Tod. Es gibt aber auch zeitliche Eingrenzungen, die das gemeinsame Schaffen der beiden befreundeten Dichter Goethe und Schiller von 1794 bis zu Schillers Tod 1805 als Weimarer Klassik zeitlich festlegen. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die bedeutenden Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige aber auch die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die berühmtesten Autoren der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das vorliegende Gedicht umfasst 446 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 67 Versen. Die Gedichte „An den Mond“, „An den Schlaf“ und „An den Selbstherscher“ sind weitere Werke des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Zum Autor des Gedichtes „Amor als Landschaftsmaler“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 1618 Gedichte vor.

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