Gebet um Reinheit von Franz Werfel

Nun wieder, mein Vater, ist kommen die Nacht, die alte, immergleiche.
Sie durchschreitet uns all die Wunderblinden mitten im Wunder.
Und die Stunde ist da, wo die Menschen, unwissend des tiefen Zeichens,
Vor ihr Wasser treten, den Kopf eintauchen und die beschmutzten Hände spülen.
 
O heilig Wasser der Erde, doppelt bestimmt zu tränken und zu reinigen!
O mein Gott, o mein Vater, heilig Wasser der Geisterwelt!
Ist nicht meine Sehnsucht nach deiner Kühle Gewähr, daß du springst und spülst,
Ist nicht mein Zweifel noch das Hinlauschen nach deinem süßen Gefälle?
 
Ich senke meinen Kopf und tauche ihn in die Feuchte des Lampenkreises.
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Ich halte dir meine beschmutzten Hände hin, wie ein Kind, das am Abend der Waschung wartet.
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Nach einem lügnerischen Tage will ich mich sammeln, um in dieser Spanne wahr zu sein.
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Ich will mich in meiner Hürde zusammendrängen, bis das Geheul meiner Eitelkeit verstummt.
 
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Dein Psalmist, mein Vater, hat wider seine Feinde gesungen,
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Und ich, mein Vater, folge ihm und singe einen Psalm hier wider meinen Feind!
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Ach, ich habe keine Feinde, denn wir Menschen lieben einander nicht einmal so sehr,
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um uns Feinde zu sein.
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Aber ich habe einen Feind, einen gewaltigen Feind,
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der mich berennt und an alle meine Tore pocht.
 
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Ich habe einen Feind, mein Vater, der an meinem Tisch sitzt und Völlerei treibt,
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Während ich meine verdorrten Hände falte und darbe, und sich am Fenster die Hungrigen drängen.
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Ich habe einen Feind, der aufstoßend nach der Mahlzeit seine Zigarre raucht und fett wird,
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Während ich immer geringer werde und zusehn muß, wie er das Gut meiner Seele verpraßt.
 
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Ich habe einen Feind, mein Vater, der meine edle Rede in Geschwätz verkehrt
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und in Selbstbetrug.
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Ich habe einen Feind, der mein Gewissen liebedienerisch
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macht, und meine Liebe mit Trägheit erstickt.
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Ich habe einen Feind, der mich zu jeder Niedrigkeit
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verleitet, zur Wollust des Sieges an den Spieltischen,
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Der ich doch ein Meister der göttlichen Genüsse bin.
 
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Warum hast du mich mit diesem Feind erschaffen, mein
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Vater, warum mich zu dieser Zwieheit gemacht?
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Warum gabst du mir nicht Einheit und Reinheit?
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Reinige, einige mich, o du Gewässer!
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Siehe, es wehklagen all deine wissenden Kinder seit
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eh und je über die Zahl Zwei.
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Ich tauche meinen Kopf ins Licht und halte dir meine Hände hin zur Waschung.
 
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Befreie mich, reinige mich, mein Vater, töte diesen
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Feind, töte mich, ertränke diesen Mich!
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Wie selig sind die Einfachen, die Unwissenden, selig
40 
die einfach Guten, selig die einfach Bösen!
41 
Aber unselig, unselig die Entzweiten, die Zwiefachen,
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die zu- und abnehmenden Gegenspieler.
43 
O heilig Gewässer, um dein und meiner Größe willen,
44 
hilf mir!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.8 KB)

Details zum Gedicht „Gebet um Reinheit“

Autor
Franz Werfel
Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
432
Entstehungsjahr
1890 - 1945
Epoche
Expressionismus,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

„Das Gebet um Reinheit“ ist ein Gedicht von Franz Werfel, einem deutschsprachigen Schriftsteller, der von 1890 bis 1945 lebte. Werfel ist bekannt für seine Werke, die religiöse Fragen und persönliche, moralische Kämpfe einbeziehen, und dieses Gedicht spiegelt viele dieser Themen wider.

Auf den ersten Blick kann man dieses Werk als ein religiöses Manifest oder eine betende Hymne interpretieren. Durch ein tieferes Eintauchen in den Text kann man jedoch erkennen, dass es vielmehr eine Reflexion und Infragestellung des eigenen Selbst und der eigenen moralischen Unzulänglichkeiten darstellt.

Inhaltlich erinnert das lyrische Ich an einen tiefgehenden inneren Konflikt, der sowohl moralische als auch spirituelle Fragen aufwirft. Es scheint in erster Linie um das Thema der Reinigung und Erneuerung zu gehen. Die Metaphern und Symbolsprache des Wassers scheinen auf klassische Rituale der Reinigung und Taufe anzuspielen. Die Wiederkehr des Themas der Nacht und des Tages deutet auf einen fortwährenden Kampf zwischen der Finsternis (moralische Fehlbarkeit) und dem Licht (Erleuchtung) hin.

Das lyrische Ich drückt seine Sehnsucht nach Ganzheit und moralischer Integrität aus, fühlt sich aber durch eigene Schwächen und eine ablenkende Welt verführt und geteilt. Diese Verdoppelung des Selbst bezeichnet es als seinen „gewaltigen Feind“, der bei jedem Versuch der Reinigung und Erneuerung im Weg steht.

In Form des Gedichts fällt ein strukturelles Muster auf: Die Zahl der Verse in jeder Strophe steigt zunächst von vier in den ersten beiden Strophen auf sechs in der vierten Strophe, sinkt dann wieder auf vier in der fünften Strophe und steigt dann erneut auf sieben in den letzten beiden Strophen. Dieses Muster könnte die Themen von Dualität und Konflikt im Inhalt des Gedichts widerspiegeln.

Die Sprache des Gedichts ist reich an komplexen Metaphern und Anspielungen. Sie reflektiert ein hohes Maß an kulturellem und biblischem Wissen und erfordert daher eine gewisse Kenntnis dieser Hintergründe für eine vollständige Interpretation.

Zusammengefasst handelt es sich bei „Gebet um Reinheit“ um ein introspektives und zutiefst menschliches Gedicht, das den inneren Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen dem Bestreben nach Reinheit und der Realität der menschlichen Unvollkommenheit aufzeigt. Es ist ein eindringlicher Appell an die Größe des Göttlichen und eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Dualität des menschlichen Geistes.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Gebet um Reinheit“ ist Franz Werfel. Der Autor Franz Werfel wurde 1890 in Prag / Österreich-Ungarn geboren. Im Zeitraum zwischen 1906 und 1945 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Expressionismus oder Exilliteratur zugeordnet werden. Werfel ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Autoren, die ins Exil fliehen, also ihr Heimatland verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Anders als andere Epochen der Literatur, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 432 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Franz Werfel ist auch der Autor für Gedichte wie „Ein Lebens-Lied“, „Welche Lust auf Erden denn ist süßer“ und „Verzweiflung“. Zum Autor des Gedichtes „Gebet um Reinheit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 22 Gedichte veröffentlicht.

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